Im Gewand der Nacht
blickte İkmen fest in die Augen. »Nehmen Sie sich eine Woche frei.«
»Eine Woche!«
»Eine Woche, İkmen«, knurrte Ardiç. »Mit Ihren Kindern, das wird Ihnen gut tun.«
Tränen der Wut und Frustration stiegen İkmen in die Augen. Er hatte hart gearbeitet, um diesen Fall überhaupt so weit voranzutreiben. Und jetzt wurde er von einem von Ardiçs Vorgesetzten weggeschickt. Warum? Doch Ardiçs entschlossenem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte es keinen Zweck, weiter mit ihm zu diskutieren. »Jawohl, Herr Polizeipräsident«, sagte er leise.
Und plötzlich schenkte Ardiç ihm ein Lächeln. »Vergessen Sie das alles hier doch einfach mal«, sagte er und wedelte mit der Zigarre in der Luft herum. »Sehen Sie zu, dass Sie wieder zu Kräften kommen. Die Menschen werden immer gierig, gewalttätig und unvernünftig sein, und wenn Sie zurückkommen, wird noch genug Arbeit auf Sie warten.«
»Ja.« İkmens Gesicht, das ohnehin schon von vielen Falten und Linien gezeichnet war, wirkte jetzt regelrecht zerfurcht. Schwerfällig erhob er sich aus dem Sessel, als drücke eine schwere Last auf seine Schultern.
Zu Ardiçs offensichtlicher Erleichterung wandte er sich zum Gehen. Doch dann drehte er sich plötzlich noch einmal um. So einfach konnte er die Sache nicht auf sich beruhen lassen!
»Sind das die gleichen Leute, die Ihnen befohlen haben, mich vom Fall Hatice İpek abzuziehen?«, fragte er mit vor Bitterkeit heiserer Stimme. »Haben Sie von denen den Auftrag bekommen, mich auch von diesem Fall fern zu halten?«
»Der Fall İpek existiert im Grunde gar nicht«, sagte Ardiç, dessen Augen jetzt gefährlich funkelten. »Das Mädchen starb eines natürlichen Todes. Süleyman wird alle nötigen Schritte einleiten, um ihre Vergewaltiger zu finden.«
»Ja, sobald er wieder im Dienst ist und sämtliche Spuren kalt sind«, sagte İkmen. »Ja, ich weiß.«
»Es gibt keinen Fall İpek, İkmen!« Ardiçs normalerweise gerötetes Gesicht hatte eine beunruhigende graue Schattierung angenommen. Wenn İkmen nicht selbst so furchtbar zornig gewesen wäre, hätte er einen Moment innegehalten, um darüber nachzudenken, welche Folgen seine Worte für den Gesundheitszustand seines Vorgesetzten haben könnten. Doch diesen Punkt hatte er längst hinter sich gelassen.
»Ich habe hier enorme Fortschritte gemacht!«, brüllte er. »Ich habe herausgefunden, wie die Brüder Sivas das Anwesen unbemerkt verlassen konnten, und ich habe weitere Beweise dafür gefunden, dass es eine Verbindung zwischen Hikmet und der Mafia gibt.«
»Schreiben Sie das in Ihren Bericht, und ich werde es lesen!«
Ardiç versuchte aufzuspringen, kam aber nur mühsam hoch.
»Jawohl, Herr Polizeipräsident! In Ordnung!« İkmen beugte sich vor, so dass seine Nase fast Ardiçs Gesicht berührte. »Aber ich sage Ihnen noch einmal: Wenn Sie nicht sofort Kontakt zu den amerikanischen Behörden aufnehmen, wie ich es bereits empfohlen hatte …«
»Ich werde das tun, was ich für richtig halte!«
İkmen trat einen Schritt zurück und betrachtete seinen Vorgesetzten mit verächtlicher Miene. »Auch wenn die Leute, die Sie aus welchen Gründen auch immer im Augenblick am Gängelband führen, das nicht wollen?«
Ardiçs aus mehreren Lagen bestehendes Doppelkinn zitterte vor Empörung. »Was erlauben Sie sich! Jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen, bevor ich mich vergesse!«
İkmen marschierte in Richtung Tür.
»Richten Sie Metin aus, dass ich ihm viel Glück wünsche«, sagte er, als er die Tür öffnete und sich noch einmal zu Ardiç umdrehte. »Welches Spiel hier auch immer gespielt wird, ich hoffe für ihn, dass es am Ende nicht auch ihn besudelt.«
Dann ging er hinaus und zog die Tür grußlos hinter sich zu.
Das südliche Ende der İshak Paşa Caddesi verschwand kurz vor dem Bahnhof Cankurturan unter den Eisenbahngleisen. Beim Eintritt in die Unterführung war der Bahnhof, von dem früher der berühmte Orientexpress nach Paris abfuhr, bereits zu sehen. Obwohl hier inzwischen nur noch die Regionalbahn hielt, konnte Muazzez Heper sich gut daran erinnern – natürlich nicht an die luxuriöse Glanzzeit, aber an den langsamen Verfall während der fünfziger und sechziger Jahre, als diese Strecke hauptsächlich von Bauern genutzt wurde, die als Gastarbeiter nach Deutschland reisten. Dennoch hatte Muazzez immer davon geträumt, eines Tages einmal selbst in den nicht mehr ganz so luxuriösen Waggons des Orientexpress reisen zu können.
Doch als sich
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