Im Gewand der Nacht
der geistige Zustand des Generals zusehends verschlechterte, waren solche Jugendträume für sie schnell ausgeträumt. Yümniye und ihr gelang es unter großen Mühen, sei ne Behandlung und die Miete zu bezahlen; an Reisen ins Ausland war überhaupt nicht zu denken. Manchmal jedoch konnte Muazzez das verwirrte Gerede ihres Vaters einfach nicht länger ertragen, und es drängte sie, einen Blick auf das Leben außerhalb ihres Hauses in Üsküdar zu erhaschen. Meistens machte sie nur einen kleinen Spaziergang, doch hin und wieder kratzte sie alles Geld zusammen, was sie finden konnte, und ging ins Alkazar-Kino in Beyoğlu. Dort bewunderte sie dann Yeşilcams großbusige Heldinnen, die vor schnurrbärtigen Schurken erzitterten, oder sie klatschte den neuesten Hollywoodproduktionen begeistert Beifall – Filmen mit unglaublich prachtvoller Ausstattung, in denen echte Stars wie Gary Grant, Frank Sinatra und Marilyn Monroe auftraten. Genau dort, in diesem Kino, hatte sie auch den Mann kennen gelernt, der ihr Leben für immer verändern sollte – sowohl zum Guten als auch zum Schlechten, doch größtenteils zum Guten. Nach dieser Begegnung brauchten sie sich nie mehr Sorgen wegen der Miete zu machen, und dank der gelegentlichen großzügigen Finanzspritzen aus derselben Quelle kamen die Heper-Schwestern fortan wunderbar über die Runden. Zwar war Muazzez nie mit dem Orientexpress oder irgendeinem anderen Verkehrsmittel quer durch Europa gereist, aber man konnte schließlich nicht alles haben. Der General hatte in Würde altern und sterben können, und das war alle Mühen wert gewesen. Darum hatte sie es überhaupt nur getan. Und sie hatte richtig gehandelt – egal, was ihre Freunde, Nachbarn oder Verwandten sagen würden, wenn sie je davon erfahren sollten. Muazzez bereute nichts.
Erschöpft von der Hitze, die auch durch die leichte Brise vom Marmarameer nicht erträglicher wurde, lehnte Muazzez sich gegen die Mauer der Unterführung. Sie war zu alt, um längere Zeit an seltsamen Orten herumzustehen. Wo blieb er nur? Starke Schwingungen in den Betonwänden der Unterführung verrieten ihr, dass gerade ein Zug in den Bahnhof einfuhr. Außerhalb der Hauptverkehrszeiten nutzten nur wenige Leute den Zug, um in die Stadt zu fahren, daher herrschte jetzt nicht wie zu anderen Tageszeiten ein großes Gedränge. Es kam Muazzez so vor, als würde es nun noch wärmer, und die Stille, die sie umgab, wurde lediglich vom entfernten Geschrei spielender Kinder in den schäbigen Straßen von Cankurturan durchbrochen. Muazzez lächelte. Bei Nacht galt dieses Viertel als Treffpunkt von Dieben, Prostituierten und Betrunkenen, doch tagsüber war es hier sicher. Das dachte sie zumindest.
Der Zug verließ den Bahnhof und rollte über die Unterführung. Etwa zweihundert Meter davon entfernt setzte sich in der İshak Paşa Caddesi ein Wagen in Bewegung. Zeitgleich mit dem abfahrenden Zug gewann der weiße Volvo Kombi an Geschwindigkeit und raste mit ziemlich hohem Tempo in die Unterführung.
Muazzez, die sich auf den Lärm des Zugs über ihrem Kopf konzentrierte, hörte den Wagen erst, als es zu spät war. Noch als die schwere Motorhaube ihr die Beine zertrümmerte, dachte sie keine Sekunde daran, dass es sich nicht um einen Unfall handeln könnte. Doch als der Wagen zurücksetzte, im Lärm des über die Unterführung donnernden Zugs erneut auf sie zuraste und sie tödlich erfasste, wusste sie, dass sie sterben musste. Und noch im Tode empfand sie nur tiefe Trauer darüber, dass er nach all den Jahren das Gefühl hatte, er müsse sie auf diese Weise zum Schweigen bringen. Er hätte wissen müssen, dass dazu keine Notwendigkeit bestand.
Als der Wagen mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Kennedy Caddesi verschwand, starb Muazzez Heper einsam und allein auf dem Boden der Unterführung.
Manchmal gibt es selbst zwischen den besten Freunden Geheimnisse. Man spürt es am Verhalten des anderen, an der Atmosphäre im Zimmer. Wie ein aufdringliches Parfüm schwebt das Unausgesprochene in der Luft und lastet schwer auf jeder noch so allgemeinen Unterhaltung.
Sobald er die Türschwelle überschritten hatte, wusste İkmen, dass in Süleymans Haus etwas Seltsames vor sich ging. Nicht nur, dass Mehmet für seine Verhältnisse einen äußerst ungepflegten Eindruck machte, er hatte auch einen sehr hässlichen Kratzer auf der Wange. İkmen sagte nichts dazu, selbst als er bemerkte, dass der alte Dr. Halman, der mit dem kleinen Yusuf İzzeddin auf dem Arm
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