Im Hauch des Abendwindes
schwierigen Zeitgenossen zu tun und konnte durchaus ihren Standpunkt klarmachen, wenn es sein musste.
Als Ruby am anderen Morgen um neun Uhr Stellas Salon betrat, war sie bitter enttäuscht. Der Laden übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Er war schrecklich altmodisch, und die Besitzer, ein tatteriges älteres Paar, standen mit einem Bein praktisch schon im Altersheim, aus dem der größte Teil ihrer Kundschaft – blauhaarige alte Damen – stammte. Stella und ihr Mann hatten den Laden in den Vierzigerjahren eröffnet, und seitdem war die Einrichtung unverändert geblieben. Sogar die welkende Zimmerpflanze sah aus, als stammte sie aus jener Zeit. Sie hätten nicht die Absicht, noch in den Laden zu investieren, räumte Stella ein, weil sie sich im Lauf der nächsten zwölf Monate zur Ruhe setzen und nach Southport Gold Coast ziehen würden.
Nachdem sie Ruby Fragen über ihren beruflichen Werdegang und ihre Berufserfahrung gestellt hatte, betonte Stella, dass sie, falls sie die Stelle haben wolle, nur sehr dezentes Make-up auflegen dürfe.
»Was genau verstehen Sie unter sehr dezentem Make-up?«, fragte Ruby vorsichtig. Sie fand, das ging dann doch ein bisschen zu weit.
»Nun, gegen etwas Puder und Rouge ist nichts einzuwenden. Aber keine grellen Lippenstifte, kein schwarzer Eyeliner, kein Lidschatten.«
Ruby war verblüfft, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
»Und es wird nicht geraucht und auch kein Kaugummi gekaut«, fügte Stella hinzu.
»Das wird kein Problem sein«, erwiderte Ruby und meinte es auch so.
»Das mag sich streng anhören, aber die meisten unserer Kunden sind schon älter und sehr konservativ«, sagte Stella leise, während sie einer alten Dame, die unter der Trockenhaube gesessen hatte, die Lockenwickler herausdrehte. »Fast alle Altersheime hier in der Gegend schicken ihre Bewohner zu uns«, fügte sie hinzu.
Das überraschte Ruby nicht im Geringsten.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte die Kundin laut. »Sie müssen lauter sprechen, Schätzchen. Sie wissen doch, dass ich nicht mehr gut höre.«
»Nichts, Gladys«, schrie Stella ihr ins Ohr. »Ich habe mich nur mit der jungen Dame hier unterhalten.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich wünschte, sie wäre nicht so eitel und würde ihr Hörgerät tragen.«
»Oh, ich nehme eine Tasse Tee mit Milch und einem Stück Zucker, bitte«, sagte die alte Dame lächelnd.
Stella erwiderte ihr Lächeln, aber in Ruby krampfte sich innerlich alles zusammen. Sie hatte absolut nichts gegen reizende alte Damen, aber sie arbeitete lieber unter jungen Leuten, die sie mit ihrem Schwung mitrissen. Andererseits hatte sie das Geld bitter nötig.
»Sie können für den Anfang zehn bis fünfzehn Stunden die Woche arbeiten«, sagte Stella, als sie einen Kittel aus dem Lagerraum im hinteren Teil des Ladens geholt hatte. Bedrückt betrachtete Ruby das verwaschene, ausgeleierte rosarote Kleidungsstück, das ihr mit Sicherheit bis zur Wade reichen würde.
»Nicht mehr? Ich hatte eigentlich auf eine Vollzeitstelle gehofft.«
Stella schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen im Moment nicht bieten.« Sie arbeitete im Schneckentempo weiter.
Tommy, ihr Ehemann, trottete aus dem Laden und fuhr in seinem Morris Minor davon. Er mache Hausbesuche bei den gehbehinderten oder bettlägerigen Kunden in den Heimen, erklärte Stella.
Ruby nagte an ihrer Unterlippe und dachte nach. Mit zehn oder fünfzehn Stunden würde sie sich nicht über Wasser halten können. Das Testament ihres Vaters fiel ihr ein, und sie ignorierte die innere Stimme, die sie an ihren dummen Stolz erinnerte. Vielleicht hatte er ihr ein bisschen Barvermögen hinterlassen, genug, um davon einen eigenen Salon zu eröffnen. Dann bräuchte sie nicht in einem fürchterlichen Laden wie diesem zu arbeiten und blauhaarigen alten Damen Dauerwellen zu legen.
»Nun, Kindchen, möchten Sie die Stelle?« Stella hielt den grauenhaften Kittel hoch, als wäre er ein Bonus, dem Ruby unmöglich widerstehen könnte.
»Ich … ich gebe Ihnen morgen Bescheid, Stella«, stammelte Ruby. Sie wich zur Tür zurück und schlüpfte fix aus dem Laden.
Vielleicht leitete dieser Nachmittag ja eine Wende in ihrem Leben ein, eine Wende zum Guten. Anstatt ihren Stolz hinunterzuschlucken und für Stella zu arbeiten, würde sie ihren Stolz hinunterschlucken und das Geld ihres Vaters annehmen.
Ruby und Emily stiegen in der Kenneth Street, Longueville, aus dem Bus und gingen das letzte Stück
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