Im Hauch des Abendwindes
musste.
Emily schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn zu lügen. »Es ist nichts mehr überwiesen worden. Und Montag ist die Miete fällig. Aber mach dir keine Sorgen, wir sind noch nie mit der Miete im Rückstand gewesen. Unser Vermieter wird uns bestimmt einen Aufschub gewähren.«
»Hoffentlich«, murmelte Ruby. »Morgen früh hab ich übrigens einen Termin bei Stella’s in Northwood.« Eine Nachbarin hatte ihr erzählt, dass dort eine Friseurin gesucht wurde. Der Salon lag nicht allzu weit von der Wohnung entfernt, insofern wäre es ganz praktisch. »Vielleicht klappt es ja diesmal. Wenn es sein muss, werde ich auf Knien um die Stelle betteln«, fügte sie, nur halb im Scherz, hinzu.
»Ich kenne den Salon, und ich weiß nicht, ob das das Richtige für dich ist«, meinte Emily zweifelnd. »Stella’s kannst du nicht mit Barbies Laden vergleichen.«
»Man kann keinen der Salons, in denen ich mich bisher vorgestellt habe, mit Barbies Laden vergleichen, Mom. Bei Coco’s in Gore Hill hat ein Lehrling mit Farben experimentiert und die Haare einer Kundin ziemlich übel zugerichtet, und die Inhaberin des Salons hat es nicht einmal gemerkt. Ich musste mich beherrschen, um nicht einzugreifen. Von den Angestellten wird zudem erwartet, dass sie ihre Haare in den schrillsten Farben färben und damit Reklame für die Produkte machen, die im Laden verkauft werden. Ich geh ja gern mit der Mode, aber ich weigere mich entschieden, mir die Haare so grässlich zu färben. In einem anderen Salon haben die Mädchen einen richtig schlampigen Eindruck gemacht. Sie haben sich regelmäßig nach hinten verzogen, um zu rauchen. Außerdem waren der Boden und die Waschbecken schmuddelig und voller Haare, und die Handtücher wurden anscheinend mehrmals benutzt.«
Emily verzog angewidert das Gesicht. »Wie schrecklich!«, rief sie.
»In einem Laden in Riverview habe ich den Mädchen bei der Arbeit zugeschaut, während ich warten musste, und gesehen, dass sie überhaupt nicht richtig ausgebildet waren. Sie haben das Fixiermittel für eine Dauerwelle viel zu lange dringelassen und die Farben nicht richtig angerührt. In so einem Salon könnte ich niemals arbeiten, Mom, und nicht nur, weil ich vielleicht so pingelig bin.«
»Ich kann dich verstehen, Ruby; ich will doch auch, dass dir deine Arbeit Spaß macht.«
»Aber ich kann es mir nicht mehr leisten, wählerisch zu sein. Wenn Stella mir die Stelle anbietet, werde ich zugreifen, ganz egal, was für ein Laden das ist. Ich kann mich dann an meinem freien Tag immer noch nach etwas anderem umsehen.«
Emily seufzte. Sie schlief nachts schon nicht mehr vor lauter Sorge. Auch sie hatte versucht, Arbeit zu finden. Aber wer stellte schon jemanden in ihrem Alter ein, noch dazu ohne Berufserfahrung?
»Morgen Mittag ist die Testamentseröffnung, Ruby. Ich werde hingehen. Ich habe gar keine andere Wahl. Willst du nicht mitkommen?«
Ruby schüttelte stumm den Kopf.
»Du kannst das Erbe ausschlagen, wenn du es nicht willst, aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du zu meiner Unterstützung mitkämst.«
Ruby zögerte. Sie wollte ihre Mutter nicht im Stich lassen. »Wann musst du dort sein?«, fragte sie leise.
»Um eins. Das Testament wird in der Kanzlei des Anwalts eröffnet. Sie liegt im Einkaufsviertel von Longueville. Wirst du da sein?«
Bevor Ruby antworten konnte, klingelte das Telefon. Emily nahm ab, und Ruby lauschte mit angehaltenem Atem. Sie hoffte, dass es einer der Salons war, in denen sie ihre Adresse hinterlassen hatte.
»Ja, ich verstehe, Mr. Humphries«, sagte Emily. »Ja, ich weiß, wo das ist. Danke für Ihren Anruf. Auf Wiederhören.«
Sie legte auf und wandte sich ihrer Tochter zu. »Das war der Anwalt. Seine Kanzlei ist nach einem Wasserrohrbruch überflutet worden. Es wird mindestens eine Woche dauern, bis der Schaden behoben ist.«
»Dann wird die Testamentseröffnung verschoben?«
»Nein, sie wird in Joes Haus in Longueville stattfinden, zur selben Uhrzeit.«
»Was?« Diese Neuigkeit beunruhigte Ruby. Die Anwaltskanzlei wäre sozusagen neutraler Boden gewesen, was man vom Wohnsitz ihres Vaters nicht behaupten konnte. »Da gehst du mir nicht allein hin!,« sagte sie. »Ich werde da sein.«
Emily atmete auf. Mit Ruby an ihrer Seite würde der frostige Empfang, den Joes Familie ihr mit Sicherheit bereitete, leichter zu ertragen sein. Sie war ein friedliebender Mensch, der jeder Konfrontation aus dem Weg ging, aber Ruby hatte von Berufs wegen oft mit
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