Im Hauch des Abendwindes
sie.
»Was soll das heißen?«, fragte Jed.
»Mein Hemd war heute Morgen blutverschmiert«, gestand Charlie, »und ich glaube nicht, dass das Blut von mir stammt, weil ich keinerlei Verletzungen habe. Vielleicht habe ich etwas Furchtbares verbrochen.«
»Du könntest niemals jemandem etwas zuleide tun, Charlie«, beruhigte Jed ihn. »Das weiß jeder hier.«
»Ihr irrt euch«, murmelte Charlie mit belegter Stimme. »Ich habe sogar meine eigene Tochter geschlagen.«
»Tochter?«, wiederholte Myra verdutzt. »Du hast nie erwähnt, dass du eine Tochter hast.«
»Nein, weil ich mich schäme.« Charlie schüttelte den Kopf. »Ich wurde festgenommen und wegen Körperverletzung angeklagt, weil ich auf sie losgegangen bin.«
Ungläubiges Raunen erhob sich im Raum.
»Du?« Myra war fassungslos. Sie fragte sich, ob sie diesen Mann wirklich so gut kannte, wie sie immer gedacht hatte.
Charlie nickte. »Ich bin nicht der wunderbare Mensch, für den ihr mich haltet oder gehalten habt, aber ich steige Girra nicht nach, das müsst ihr mir glauben.« Er konnte den Männern ansehen, dass sie ihm das nicht abnahmen, und das verletzte ihn zutiefst. Er atmete tief durch und fuhr fort: »Meine Tochter heißt Sheryl. Als ich sie das letzte Mal sah, war sie ungefähr in Girras Alter. Wahrscheinlich hat sie längst eine eigene Familie. Ich glaube, wenn ich Girra nachts durch die Stadt streifen sehe, muss ich unwillkürlich an Sheryl denken, und dann will ich sie vor den Jungs beschützen, verhindern, dass sie in Schwierigkeiten gerät.« Myra starrte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Es musste ihr wie Verrat vorkommen, dass er ihr in all den Jahren ihrer Freundschaft nie von seiner Ehe oder seiner Tochter erzählt hatte, während sie ihm so viele persönliche Dinge anvertraut hatte. »Es tut mir leid, Myra.« Er schaute zu Boden.
»Warum hast du mir nie gesagt, dass du verheiratet warst und eine Tochter hast?«, fragte sie gekränkt.
Charlie kämpfte sichtlich mit sich. In diesem Augenblick hätte er alles für ein großes Bier gegeben. »Dieser Teil meines Lebens war so schmerzlich, dass ich ihn vollständig verdränge. Nur wenn ich getrunken habe, kommen die Erinnerungen wieder hoch und quälen mich.«
»Was ist passiert, Charlie?«, drängte Myra behutsam, als er nicht weitersprach. Sie wollte die Wahrheit wissen, mochte sie noch so schmerzhaft sein.
»Meine Frau und ich lebten in Melbourne. Wir hatten einen Laden. Unsere Ehe war nicht gut. Wir stritten uns in einem fort, wir zankten uns wegen jeder Kleinigkeit. Ich konnte ihr nichts recht machen. Sheryl war unser einziges Kind, und sie litt natürlich unter unseren Streitereien, doch das war mir damals nicht klar. Mit sechzehn fing sie an, bei uns im Laden zu arbeiten. In ihrer Freizeit wollte sie immer weg, mit ihren Freunden ausgehen, wahrscheinlich, weil sie es zu Hause nicht aushielt. Als ich es ihr verbot, stahl sie sich nachts aus dem Haus und traf sich heimlich mit irgendwelchen Jungs. Irgendwann kam ich dahinter, und wir kriegten einen Mordskrach. Ich drohte ihr sogar, sie vor die Tür zu setzen, so wütend war ich, aber das brachte meine Frau in Rage und führte nur zu weiteren heftigen Auseinandersetzungen. Ich verlor zunehmend die Kontrolle über mein Leben, über mein Geschäft, meine Ehe, meine Tochter. Dann entdeckte ich in Sheryls Zimmer auch noch leere Schnapsflaschen. Ich war außer mir. Ende der Dreißigerjahre schickte sich ein derartiges Benehmen nicht für eine junge Dame, aber im tiefsten Inneren wusste ich, dass es größtenteils meine Schuld war. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Wenn sie nun schwanger würde? Als wir uns wieder einmal stritten, dass die Fetzen flogen, provozierte sie mich mit der Bemerkung, sie habe mit einem Jungen geschlafen, und da sah ich rot. Ich packte sie, schüttelte sie, schleuderte sie gegen eine Wand und schlug ihr ins Gesicht. Ich hätte niemals gedacht, dass ich zu so etwas fähig wäre. Ich hatte vollkommen die Beherrschung verloren, und das machte mir Angst.«
Myra berührte mitfühlend Charlies Arm. Sie hatte selbst Kinder, sie konnte ihn verstehen.
»Mein Wutausbruch kam Lindy, meiner Frau, sehr gelegen. Jetzt hatte sie einen Vorwand, mich loszuwerden. Sie rief die Polizei, und ich wurde wegen Körperverletzung festgenommen.« Charlie senkte abermals den Kopf. »Obwohl ich von meiner Tochter enttäuscht und furchtbar wütend auf sie war, konnte ich mir nicht verzeihen, dass ich sie geschlagen
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