Im Hauch des Abendwindes
ein ungutes Gefühl. Die Frau klang nicht sehr freundlich. Schlurfende Schritte näherten sich in dem Zwielicht, das drinnen herrschte.
»Deswegen komme ich nicht, Mrs. Cratchley«, antwortete Girra, obwohl sie hungrig war – und ihre Geschwister auch.
Sie hatten den ganzen Morgen noch nichts gegessen, und am Abend zuvor hatten sie nur eine kleine Eidechse gefangen, die sie über dem Lagerfeuer gebraten hatten, aber sie beschwerten sich nicht. Mit großen Augen schauten die beiden Kleinen auf die Tür mit dem rostigen, zerrissenen Fliegengitter, die in diesem Augenblick geöffnet wurde. Mrs. Cratchley starrte die vier, die da auf ihrer Veranda standen, verblüfft an.
»Was ist denn mit euch passiert? Ihr seid ja vollkommen schlammverkrustet und … Seid ihr verletzt?«, fragte sie.
»Wir sind im Black Hill Creek vom Hochwasser überrascht worden«, erklärte Girra. Von Charlie Gillard sagte sie nichts, weil sie sich schämte.
»Das war aber nicht sehr klug von euch«, bemerkte Mrs. Cratchley nüchtern. Ihre vogelähnlichen Augen huschten über Ruby und musterten sie eher neugierig als mitleidig. Ruby schätzte die Frau auf über sechzig, aber sie wirkte nicht zerbrechlich, sondern robust und zäh wie altes Stiefelleder. »Und was erwartet ihr jetzt von mir?«, fügte sie schroff hinzu.
»Könnten Sie der jungen Frau hier vielleicht helfen? Das Wasser hat ihr Gepäck mitgerissen, sie hat gar nichts mehr …«
Mrs. Cratchley ließ sie nicht ausreden. »Das hier ist keine wohltätige Einrichtung für Obdachlose!«, rief sie ungehalten. »Geht woanders hin.« Damit schlug sie die Tür zu.
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ruby drehte sich um, ging die Verandastufen hinunter, hockte sich in den Staub und begann zu schluchzen. In den letzten Tagen hatte sie zu viel durchgemacht, sie konnte einfach nicht mehr. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, die sie in den Arm genommen und getröstet hätte, aber sie hatte nicht einmal mehr das Geld für ein Telefongespräch nach Fern Bay. Ruby besaß buchstäblich nur noch das, was sie am Leib trug.
Girra hätte ihr gern Mut gemacht, aber was hätte sie ihr sagen können? Ihr Clan lebte am Rand der Siedlung und wurde von den Weißen nur geduldet. Myra Cratchley war die Einzige, zu der sie engeren Kontakt hatte.
Girra und Mrs. Cratchley hatten sich kennengelernt, als Myall eines Tages auf ihr Grundstück lief, weil er die Hühner hatte gackern hören. Mrs. Cratchley dachte, er wolle Eier stehlen, und rannte mit dem Besen hinter ihm her, worauf der Junge zu weinen anfing und weglief. Girra hatte sie daraufhin erbost zur Rede gestellt, es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung. Als sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, erklärte Girra ihr, Myall sei nur neugierig gewesen, weil er noch nie Hühner gesehen habe. Es entspann sich eine Unterhaltung zwischen der einsamen alten Frau und dem Aborigine-Mädchen, und mit der Zeit freundeten sich die beiden an.
Dennoch hatte Mrs. Cratchley nie allzu viel von sich preisgegeben. Girra wusste nur, dass ihr verstorbener Mann als Minenarbeiter in Broken Hill gearbeitet hatte und Anfang der Vierzigerjahre bei einer Explosion ums Leben gekommen war. Nach sieben Jahren Ehe stand sie allein da mit fünf Kindern, keines älter als sechs. Es war nicht leicht gewesen, aber sie hatte alle großgezogen. Seit fünf Jahren lebte sie in Silverton. Die Gesellschaft der wilden Tiere, die sich auf ihrem Grundstück einfanden, und der Hühner, denen sie Namen gegeben hatte und die für sie keine Nutz-, sondern eher Streicheltiere waren, schien ihr zu genügen. Manchmal, wenn sie Girra und ihre Geschwister zufällig sah, kam sie aus dem Haus gelaufen und schenkte ihnen selbst gebackenen Kuchen oder anderes Gebäck, aber sie geizte mit ihrer Gastfreundschaft. Alles hing von ihrer momentanen Laune ab, und dummerweise war sie an diesem Tag nicht in Stimmung, sich von ihrer großzügigen Seite zu zeigen.
»Ich werde deinen Koffer suchen«, sagte Girra zu Ruby. Mehr konnte sie nicht für sie tun.
»Gib dir keine Mühe, der ist weg«, schluchzte Ruby. »Den seh ich garantiert nie wieder.« Dann sah sie an sich herunter. »Schau mich doch bloß mal an!«, jammerte sie. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, dass sie in Barbies Salon gearbeitet hatte, tadellos frisiert, geschminkt und gekleidet gewesen war. »Meine eigene Mutter würde mich nicht wiedererkennen. Ich kann es dieser Frau also nicht verdenken, dass sie mir nicht
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