Im Hauch des Abendwindes
helfen will.« Wieder flossen die Tränen.
Girra und ihre Geschwister schwiegen hilflos. Schließlich sagte Girra: »Ich werde uns etwas zu essen besorgen. Mit vollem Bauch sieht alles schon wieder ganz anders aus.«
Ruby war zwar richtiggehend schlecht vor Hunger, aber bei der Vorstellung, irgendwelche Wurzeln oder erlegtes Getier essen zu müssen, wurde ihr noch übler. »Nein, danke, das ist nicht nötig. Ich werde ganz sicher kein Känguru- oder Eidechsenfleisch oder was für widerliches Zeug ihr sonst so verputzt essen«, schmollte sie.
Als Mrs. Cratchley, die hinter der Tür stehen geblieben war, das hörte, wurde sie böse. Sie riss die Tür wieder auf und rief: »Was fällt dir ein, so mit Girra zu reden! Sie will dir doch bloß helfen. Ich frage mich allerdings, warum.«
»Ruby hat mich aus dem Wasser gezogen; sie hat mir das Leben gerettet«, erklärte Girra. Dass sie sie auch aus den Fängen von Charlie Gillard gerettet hatte, verschwieg sie jedoch.
»So?« Mrs. Cratchley machte ein zweifelndes Gesicht. »Und wenn schon. Das gibt ihr noch lange nicht das Recht, so mit dir zu reden, Girra. Du musst dir von den Besoffenen hier in der Stadt schon genug gefallen lassen. Wenn sie deine Hilfsbereitschaft nicht zu schätzen weiß, dann lass sie gehen!«
Ruby schaute mit feuchten Augen zu Girra auf. »Es tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war«, flüsterte sie bedrückt. »Seit ich vor einer Woche meine Stelle verloren habe, ist alles schiefgegangen. Du glaubst nicht, was ich für ein Pech hatte. Aber das ist nicht deine Schuld, ich hätte meine Wut und meine Enttäuschung nicht an dir auslassen dürfen.«
Mrs. Cratchley verschränkte die Arme vor der Brust und sah Ruby mitleidlos an. Sie hielt die junge Frau für eine verwöhnte Göre, die keine Ahnung hatte, wie hart das Leben sein konnte.
»Was führt dich eigentlich nach Silverton?«, fragte sie neugierig.
Ruby seufzte. »Ein Pferd. Ein halbes, genauer gesagt.«
Girra und Mrs. Cratchley blickten verwirrt drein.
»Könntest du das vielleicht näher erklären?«, bat Mrs. Cratchley etwas freundlicher.
»Mein Vater besaß einen Anteil an einem Rennpferd, den er mir in seinem Testament vermacht hat. Das Pferd muss hier irgendwo in Silverton sein. Ich möchte den anderen Besitzer bitten, mir meinen Anteil abzukaufen. Aber so wie ich mein Glück kenne, ist der Gaul vermutlich nichts wert«, fügte Ruby bitter hinzu.
Das einzige Rennpferd in Silverton, das Mrs. Cratchley kannte, gehörte Jed Monroe. »Wie bist du überhaupt hergekommen?«
»Mit dem Zug von Sydney nach Broken Hill, und von dort hat mich ein Kamelzüchter mitgenommen.«
»Bernie Lewis«, sagte Mrs. Cratchley.
»Genau der. Aber dann ist er unterwegs am Steuer eingeschlafen, der Truck kam von der Straße ab, und weil das Kamel im Anhänger in Panik geriet, hat er es ausgeladen und ist mit ihm zu Fuß weitergegangen. Und mich hat er einfach stehen lassen. Ganz allein in der Dunkelheit. Ich hatte eine Heidenangst.«
»Hier draußen tut dir keiner was«, sagte Mrs. Cratchley ungerührt.
»Wer weiß das schon? Da war ein Känguru, das hätte mich beinah angesprungen. Ich hätte fast einen Herzschlag gekriegt.«
»Das Tier hat mit Sicherheit mehr Angst vor dir gehabt als umgekehrt«, schnauzte Mrs. Cratchley. »Warum siehst du eigentlich aus, als wärst du aus einem Erdloch gekrochen?«
»Ich bin gestern Abend im Flussbett eingeschlafen. Girra hat mich heute Morgen geweckt, gerade noch rechtzeitig, bevor die Flut heranrauschte.«
»Dann hat sie dir also auch das Leben gerettet. Und dabei sich selbst in große Gefahr gebracht.«
»Ja, das stimmt«, gab Ruby zögernd zu. Sie und Girra wechselten einen flüchtigen Blick, und sie sah die stumme Bitte in den Augen des Aborigine-Mädchens. Girra wollte nicht, dass sie Charlie Gillard erwähnte. Sie seufzte. »Und jetzt ist mein Koffer fort, und ich habe kein Geld mehr und nichts anzuziehen. Ich kann nicht mal mehr nach Sydney zurück!« Sie hätte schreien mögen vor Wut und Verbitterung. »Ich will bloß noch nach Hause«, sagte sie verzweifelt. Im nächsten Augenblick stöhnte sie laut auf. »Was rede ich denn! Ich hab ja nicht einmal mehr ein Zuhause.«
»Und wieso nicht?« Mrs. Cratchley hatte den Eindruck, dass Ruby irgendwelche Geschichten erfand, um Mitleid zu schinden.
»Das ist eine lange Geschichte, ich will im Moment nicht darüber reden«, sagte Ruby mit matter Stimme. »Sie würden mir wahrscheinlich sowieso nicht
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