Im Hauch des Abendwindes
Wasser, das sie geschluckt hatte. Ruby, die selbst am Ende ihrer Kräfte war, strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Oola! Myall!«, klagte Girra und heulte bitterlich.
»Es geht ihnen gut, Girra«, stieß Ruby atemlos hervor. »Charlie Gillard hat sie gehen lassen. Sie sind in diese Richtung gelaufen und suchen dich.«
Girra hob den Kopf, Erleichterung und zaghafte Hoffnung huschten über ihr Gesicht. Sie richtete sich auf und suchte mit den Augen das Ufer ab. Arme und Beine waren voller Schürfwunden und Prellungen, aber sie humpelte gleich los, um ihre Geschwister zu suchen. Ruby folgte ihr. Bald schon sahen sie in der Ferne zwei kleine, verlorene Gestalten, die sich auf sie zubewegten. Girra schwenkte beide Arme und rief. Die Kinder stutzten eine Sekunde, dann rannten sie los. Girra fiel auf die Knie, und wenige Augenblicke später konnte sie ihre schluchzenden Geschwister in die Arme schließen. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
Ruby beobachtete die Szene gerührt. Sie hätte diesem Charlie Gillard, der sie alle in diese schreckliche Lage gebracht hatte, am liebsten den Hals umgedreht, so wütend war sie. Dann schaute sie an sich hinunter. Ihr einstmals weißes Kleid glich einem nassen, schmutzigen Lumpen, ihre Arme und Beine waren aufgeschürft, die Haare klebten ihr am Kopf. Sie sah aus wie eine halb ertrunkene Ratte. Und so sollte sie Jed Monroe gegenübertreten? Girra sah nicht viel besser aus, aber sie konnten beide von Glück sagen, dass sie noch am Leben waren.
Ruby drehte sich um und blickte den Fluss hinunter. Sie fragte sich, wie weit die Strömung ihre Schuhe und ihren Koffer wohl mitgerissen hatte. Girra erriet ihre Gedanken.
»Deine Sachen sind weg, Ruby.«
Sie nickte. »Vielleicht würde ich sie ja finden, wenn ich mich auf die Suche mache, aber barfuß würde ich nicht sehr weit kommen. Meine Füße sind jetzt schon ganz wund. Was soll ich denn jetzt machen? So kann ich doch niemandem unter die Augen treten.«
Girra dachte kurz nach. »Ich kenne jemanden, der dir vielleicht helfen kann«, sagte sie und richtete sich auf.
»Wirklich?«
»Ja. Komm, wir müssen in die Stadt.«
Girra nahm ihre Geschwister an die Hand und lief schon los. Sie kamen nur langsam voran, weil Rubys zerschundene Füße auf dem steinigen Boden noch mehr schmerzten. Girras Knie schwoll an und wurde langsam blau.
»Woher hast du eigentlich gewusst, dass die Flut kommt?«, fragte Ruby nach einer Weile.
»Ich hab das Wasser gehört. Schon lange vorher. Ich hab es schon einmal gehört. Und dieses Geräusch vergisst man nicht.«
Ruby nickte. Sie würde es ganz sicher nicht vergessen. Nie mehr. »Danke, dass du zurückgekommen bist und mich gewarnt hast.«
Girra lächelte schüchtern. »Du hast mir geholfen, ich habe dir geholfen.«
»Dann sind wir jetzt wohl quitt«, erwiderte Ruby.
Sie war der jungen Aborigine unendlich dankbar.
8
Als Ruby die Stadt sah, verschlug es ihr zuerst einmal die Sprache. Die Straßen waren allesamt unbefestigt und mit Steinen übersät. Außer Unkraut und unverwüstlichen Gänsefußbüschen gab es keinerlei Grün. Ziegen und Esel liefen frei herum. Ein Hinweisschild an der Hauptstraße wies den Weg nach Umberumberka, das ein paar Kilometer in nordwestlicher Richtung lag. Später erfuhr sie, dass die Siedlung 1881 gegründet worden war, noch vor Silverton, als John Stokie eine Silbererzmine entdeckte. Damals gab es einen Laden, ein Hotel und zwei Pensionen in dem einhundertfünfzig Einwohner zählenden Ort. Als die Mine 1892 stillgelegt wurde, zogen die Leute nach Silverton oder Broken Hill.
Rubys Versuche, den Zungenbrecher auszusprechen, brachten Girra zum Lachen.
»In meiner Sprache bedeutet Umberumberka so viel wie Rattenloch«, erklärte sie ihr. Ruby schauderte unwillkürlich. Silverton beziehe sein Wasser vom Umberumberka-Stausee, fügte Girra hinzu. Einige Gebäude der Stadt zeugten noch von ihrer Blütezeit, wie Ruby fand, das Rathaus zum Beispiel oder die beiden leer stehenden Ladengeschäfte. Auch ein Gerichtsgebäude und ein Gefängnis gab es.
»Sie werden nicht mehr benutzt«, erklärte Girra. »Es soll noch in diesem Jahr ein Museum dort eingerichtet werden.«
»Ein Museum?« Ruby hielt das für eine sonderbare Idee. »Wer soll denn hier ein Museum besuchen?«
»Keine Ahnung.« Girra zuckte mit den Achseln. »Weiße, die sich in die Stadt verirren, vielleicht.«
Der dritte Laden gehörte Charlie Gillard, der auch selbst hinter dem Ladentisch stand.
Weitere Kostenlose Bücher