Im Hauch des Abendwindes
zahlen konnte.«
»Oh. Solange ich hier lebe, hat es keinen Damenfriseur in der Stadt gegeben, und der Herrenfriseur ist vor ungefähr einem Jahr gestorben.«
»Und, was halten Sie von meiner Idee?« Ruby fragte sich, ob sie sich jemals von dem Herrenfriseur die Haare hatte schneiden lassen.
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Mrs. Cratchley zögernd.
»Glauben Sie mir, ich verstehe etwas davon«, versicherte Ruby ihr. »Mit einem guten Haarschnitt fühlen Sie sich gleich wie ein ganz anderer Mensch.«
»Ich fühle mich gut so, wie ich bin, aber wenn du meinst … Na schön, meinetwegen.« Mrs. Cratchley sah auf den Kamm und die Schere, die Ruby in den Händen hielt, und ging ins Haus. Augenblicke später kam sie mit einem Küchenstuhl und einem Handtuch wieder heraus.
»Ich soll Ihnen hier draußen die Haare schneiden?«, fragte Ruby erstaunt. Sie wäre gern in den Schatten geflüchtet.
»Ich habe gerade den Küchenboden aufgewischt, ich will nicht alles voller Haare haben.«
»Ich hätte sie schon zusammengefegt, das gehört zum Service.«
Ruby legte Mrs. Cratchley das Handtuch um die Schultern und zog dann die Haarklammern heraus, mit denen sie ihre Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt hatte. Einzelne Strähnen hingen ihr wirr rings ums Gesicht herunter. Zu Rubys Überraschung waren Mrs. Cratchleys Haare ziemlich lang. Anscheinend waren sie jahrelang nicht mehr geschnitten worden.
»Wie wär’s mit einem Kurzhaarschnitt? Der wär praktischer in dieser Hitze«, schlug sie vor.
»Ich weiß nicht so recht. Ich hab die Haare nicht mehr kurz getragen, seit … seit meiner Hochzeit.« Leise Wehmut schwang in Mrs. Cratchleys Stimme mit. »Als meine Kinder noch klein waren, konnte ich mir den Luxus eines Friseurbesuchs nicht leisten, also habe ich mir und den Kindern die Haare immer selbst geschnitten.«
»Ich bin sicher, ein Kurzhaarschnitt würde Ihnen ausgezeichnet stehen«, sagte Ruby aufrichtig. Mrs. Cratchley schien es nicht leicht gehabt zu haben im Leben, und dennoch klagte sie nicht. Ruby bewunderte ihre innere Stärke.
»Also gut. Runter damit! Dann kann ich mir wieder eine Weile den Friseurbesuch sparen. Aber ich will nicht wie ein Mann aussehen!«
»Das werden Sie auch nicht, keine Angst.« Ruby begann, das erstaunlich dichte Haar zu scheiteln. »Wie viele Kinder haben Sie denn?«, fragte sie.
»Fünf, drei Jungs und zwei Mädchen. Aber was ist mit deinem Arm passiert?«, wollte Mrs. Cratchley wissen, als sie die kleine Bisswunde bemerkte.
»Ach, einer von den Eseln hat mich gezwickt. Hat richtig wehgetan.«
»Wirklich? Kann mich nicht erinnern, dass jemals jemand von ihnen gebissen wurde. Ich werde dir Jod geben, damit du die Wunde desinfizieren kannst.«
»Danke, aber es ist keine offene Wunde. Wundert mich übrigens gar nicht, dass ich die Erste bin, die es erwischt hat«, murmelte Ruby, während sie geschickt die Schere führte. »Bei meinem Glück in letzter Zeit! Und es sieht nicht so aus, als ob meine Pechsträhne demnächst enden würde. Als ich heute Morgen im Pub nach Jed Monroe fragte, sagte Mick Doherty, Jed habe die Stadt verlassen.«
Mrs. Cratchley machte ein überraschtes Gesicht. »Also vorgestern war er noch da. Ich habe ihn nämlich gesehen.«
»Dachte mir gleich, dass der Wirt lügt«, meinte Ruby. »Ich werde heute Abend nochmal vorbeischauen.«
»Aber geh, bevor die Männer richtig betrunken sind«, riet Mrs. Cratchley ihr. »Wenn sie blau sind, zetteln sie nicht selten eine Schlägerei an, und dann ist es besser, man geht ihnen aus dem Weg.«
»Mach ich. Mick Doherty hat gemeint, es sei für mich gefährlich in einer Stadt, in der es mehr Männer als Frauen gebe. Ich denke, er wollte mir nur Angst einjagen. Können Sie sich vorstellen, warum er mich wegen Jed Monroe belogen hat?«
Mrs. Cratchley schüttelte den Kopf. »Nein, aber die Leute hier halten zusammen. Ich glaube, mich betrachten sie immer noch als Zugereiste, und ich lebe jetzt seit fünf Jahren hier.«
»Wie kann man hier leben? Ich meine, der Ort ist schrecklich abgelegen, und es gibt so gut wie keine Arbeit.«
»Als mein Mann noch lebte, hatten wir ein Haus gemietet. Eigentlich wollten wir uns eines kaufen, aber dann starb er, und ich musste zusehen, wie ich meine Familie durchbrachte. Als die Kinder aus dem Haus waren, konnte ich ein bisschen was auf die Seite legen. Im Vergleich zu Broken Hill sind die Häuser hier spottbillig, ich konnte mir eines kaufen, ohne dafür
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