Im Hauch des Abendwindes
kann es nicht nur, sie macht es auch. Angeblich soll es für die Aborigine-Kinder besser sein, wenn man sie in Waisenhäuser steckt und sie christlich erzieht, aber meiner Meinung nach ist das völliger Unsinn. Es kann doch nicht gut sein für ein Kind, aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen und von seinen Eltern getrennt zu werden!«
Myra Cratchley hatte schon öfter miterlebt, wie Aborigine-Kinder aus der Umgebung ihren Familien weggenommen worden waren, und die Dramen, die sich jedes Mal abgespielt hatten, hatten ihr fast das Herz gebrochen.
»Ich verstehe nicht, wie Charlie so etwas sagen kann«, fuhr sie fort. »Es kommt zwar vor, dass er die Aborigine-Jungs beschuldigt, sich in seinen Lagerraum zu schleichen und zu klauen, aber sonst verliert er kaum ein Wort über die Ureinwohner, die in die Stadt kommen.«
»Girra jedenfalls hat seine Drohung so ernst genommen, dass sie ins Wasser gesprungen ist, um ihren Geschwistern zu Hilfe zu kommen, und von der Strömung mitgerissen wurde. Vielleicht hat er gehofft, dass das passieren würde, keine Ahnung. Er hat auf alle Fälle nichts unternommen, um sie zu retten, sondern ist einfach weggegangen. Da bin ich eben hinterhergesprungen.«
»Das war aber sehr mutig von dir«, sagte Mrs. Cratchley bewundernd.
Ruby zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob es mutig oder dumm war. Wir konnten uns jedenfalls ans Ufer retten.«
Myra Cratchley dachte nach. Ob Charlie tatsächlich ein Alkoholproblem hatte und unter zeitweiligem Gedächtnisverlust litt? Aber das passte so gar nicht zu ihm. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.
»Hast du Charlie auch nach Jed Monroe gefragt?«
»Ja, aber da wurde er einsilbig. Er warf mich praktisch raus und hängte das ›Geschlossen‹-Schild an die Ladentür.«
»Komisch.« Es war Mrs. Cratchley ein Rätsel, warum niemand über Jed reden wollte. »Jed ist in dieser Stadt so etwas wie ein Held.«
»Wieso denn das?«
»Weil die Leute hier mit Wetten auf sein Pferd Geld verdienen.«
Ruby wurde hellhörig. »Hat es denn schon viele Rennen gewonnen?«
»Da bin ich überfragt. Ich weiß nur, dass es in diesem Jahr schon das Rennen in Darwin und das Northern Territory Derby gewonnen hat, weil das in der Stadt groß gefeiert wurde. Und vor ein paar Wochen hat es den Broken Hill Cup gewonnen, glaube ich. Halb Broken Hill und fast jeder in Silverton hat auf das Pferd gesetzt, und die Gewinnquote war ausgezeichnet, weil einige gute Pferde aus anderen Bundesstaaten am Rennen teilnahmen. Das hat Jeds Pferd zum Außenseiter mit guten Gewinnchancen gemacht.«
Ruby war nicht sonderlich beeindruckt. Ein Rennen in der Provinz konnte man nicht mit dem Melbourne Cup vergleichen. Aber immerhin war das Pferd ein paarmal siegreich gewesen, es konnte also nicht völlig wertlos sein.
»Ich selbst wette allerdings nicht«, fuhr Mrs. Cratchley fort. »Mein Mann hat an der Rennbahn viele Male seinen Lohn verspielt. Dann mussten die Kinder und ich tagelang um Essen betteln oder anschreiben lassen, und wenn er die Woche darauf wieder alles verlor, konnten wir unsere Schulden nicht einmal bezahlen. Spielleidenschaft ist ein Fluch, wenn du mich fragst.«
»Ja, da haben Sie wohl Recht«, pflichtete Ruby ihr bei. Sie dachte an das viele Geld, das ihr Vater verspielt hatte. »So, das hätten wir«, meinte sie dann und begutachtete ihre Arbeit zufrieden. »Haben Sie einen Spiegel irgendwo?«
»Ich denke schon. In letzter Zeit allerdings habe ich einen weiten Bogen um jeden Spiegel gemacht«, sagte Mrs. Cratchley.
Sie ging ins Haus und kam Augenblicke später mit einem Handspiegel zurück. »Bin das wirklich ich?«, staunte sie, während sie sich aus allen Winkeln betrachtete.
Ruby lächelte. »Sie sehen in der Tat verändert aus. Sie haben von Natur aus lockiges Haar, das kommt jetzt viel besser zur Geltung. Also, ich finde, Sie sehen mindestens zehn Jahre jünger aus!«
»So fühle ich mich auch.« Mrs. Cratchley lächelte zum allerersten Mal, seit Ruby sie kannte. Ehrfürchtig staunend berührte sie ihre Haare. »Du hast nicht zufällig etwas zum Färben dabei? Ich bin ein bisschen grau geworden.«
»Nein. Zum Glück! Stellen Sie sich bloß mal vor, was passiert wäre, als mein Koffer voll Wasser gelaufen ist. Dann wären alle meine Sachen ruiniert und nicht bloß ein paar meiner Schminkutensilien. Aber ich habe ein gutes Shampoo dabei, das können Sie gerne nehmen. Es hat eine tropische Duftnote – Kokosnuss und Mandeln.«
Mrs. Cratchley
Weitere Kostenlose Bücher