Im Hauch des Abendwindes
offenbar allein. Sein bloßer Anblick brachte Ruby in Rage. Als sie überlegte, ob sie hineingehen und ihm die Meinung sagen sollte, schaute er plötzlich auf und winkte ihr fröhlich zu. So eine Unverfrorenheit! Ruby schäumte innerlich. Sie riss die Ladentür auf und ging hinein.
»Guten Morgen«, grüßte der Ladenbesitzer gut gelaunt. »Willkommen in Silverton. Ich freue mich immer, wenn ich ein neues Gesicht sehe. Ich bin Charlie Gillard.«
Ruby sah ihn einen Augenblick ausdruckslos an. »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie grimmig.
Er machte ein verdutztes Gesicht. »Wirklich?« Er konnte sich nicht erinnern, der jungen Dame schon einmal begegnet zu sein.
»Allerdings, Sie grässlicher Mensch.«
»Wie bitte?«, stammelte er aufrichtig verwirrt. Eine Sekunde später schien es ihm zu dämmern, und er blickte ganz zerknirscht drein. »Sind wir uns vielleicht gestern Abend begegnet?«
»Fragen Sie doch nicht so dumm!«, fuhr Ruby ihn an. »Tun Sie nicht so, als ob Sie sich nicht erinnern könnten!«
»Nun, Sie müssen im Pub gewesen sein, aber ehrlich gesagt kann ich mich wirklich nicht …«
»Im Pub?« Jetzt war es Ruby, die ganz konfus war.
»Falls ich unhöflich gewesen sein sollte, möchte ich mich entschuldigen. Gut möglich, dass ich ein Glas über den Durst getrunken habe.«
»Unhöflich? Das war mehr als unhöflich. Sie wollen hoffentlich nicht behaupten, Sie könnten sich an nichts erinnern, weil Sie betrunken waren.«
»Aber es ist so. Es tut mir aufrichtig leid. Ich hoffe, ich habe mich nicht allzu sehr danebenbenommen.«
Ruby konnte fast nicht glauben, dass dieser reuige, liebenswürdige Mann derselbe war, der sich Girra und ihren Geschwistern gegenüber so aggressiv verhalten hatte. »Ich fürchte, das ist zu wenig.«
»Sie haben Recht.« Charlie öffnete den Gefrierschrank. »Hier, das geht auf Kosten des Hauses.« Er streckte ihr ein Eis am Stiel hin.
Wollte er sie etwa bestechen? »Nein, danke«, erwiderte Ruby knapp.
»Bitte nehmen Sie es«, bat Charlie. »Als kleine Wiedergutmachung.«
Bei der Hitze würde ein Eis guttun. Die Versuchung war groß.
»Bitte«, drängte Charlie noch einmal, als er spürte, dass Rubys Entschlossenheit ins Wanken geriet.
Sie wurde schwach. »Na schön.« Obwohl ihr das Eis bestimmt schmecken würde, hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie es nach allem, was der Mann Girra angetan hatte, von ihm annahm. »Das heißt aber nicht, dass ich Ihnen Ihr verabscheuenswertes Benehmen verzeihe«, fügte sie streng hinzu. »Wenn Sie keinen Alkohol vertragen, sollten Sie auch nicht trinken.«
»Sie haben völlig Recht. Ich kann Ihnen nur versichern, wie leid es mir tut, was auch immer ich getan haben mag. Das müssen Sie mir glauben.«
»Sie sollten sich nicht bei mir entschuldigen.«
Charlie machte große Augen. »Warum? Bin ich jemand anderem zu nahegetreten?«
»Das ist eine ziemlich harmlose Umschreibung.« Ruby fiel es schwer zu glauben, dass er sich wirklich nicht erinnern konnte. »Und anscheinend war es auch nicht das erste Mal.«
In diesem Moment erregte etwas draußen vor dem Laden Charlies Aufmerksamkeit, und sein Gesicht nahm einen beunruhigten Ausdruck an. Ruby drehte sich um. Ein älteres Paar schlenderte vorbei. Die Frau hatte sich bei dem Mann untergehakt, sie unterhielten sich und lächelten sich zu und sahen aus wie ein glückliches altes Ehepaar.
»Das ist Dr. Blake und seine Frau.« Charlie Gillard war sichtlich unbehaglich zumute. »Können wir über etwas anderes reden? Bitte! Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«
»Schon möglich.« Ruby sah ihn prüfend an. Sie wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann, der wie ausgewechselt war. »Können Sie mir sagen, wo ich Jed Monroe finde?«
Charlie winkte dem Doktor und seiner Frau zu, die kurz vor dem Schaufenster stehen geblieben waren und hereinsahen. Dann erst nahm er ins Bewusstsein auf, was Ruby gefragt hatte, und sein Verhalten änderte sich aufs Neue. Er steckte unverkennbar in einer Zwickmühle.
»Oh … äh … mir ist gerade eingefallen, dass ich einem Kunden noch etwas liefern muss, und ich bin schon eine halbe Stunde zu spät dran. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?«
Er kam hinter dem Ladentisch hervor, schob Ruby mit sanfter Bestimmtheit zur Tür hinaus, die er hinter ihr zusperrte, und drehte das »Geöffnet«-Schild herum.
Ruby blieb verdattert vor dem Laden stehen. Wieso reagierten alle so merkwürdig, wenn die Sprache auf Jed Monroe kam? Sie
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