Im Hauch des Abendwindes
ein Darlehen aufnehmen zu müssen. Außerdem wollte ich immer schon ein paar Hühner halten, und hier ist genug Platz dafür. Was ich verdiene, reicht zum Leben; ich bin nicht anspruchsvoll, ich brauche keinen Luxus. Ich fühle mich wohl hier.«
»Womit kann man hier denn seinen Lebensunterhalt verdienen?«
»Ich verkaufe meine Eier an den Laden. Außer mir hält nur einer hier im Ort noch Hühner, deshalb bringen die Eier einiges ein. Mein Geld gebe ich im Laden aus, was wiederum dem Ladenbesitzer Umsätze beschert. Außerdem habe ich zwei geschickte Hände, ich kann alles Mögliche reparieren. Zum Glück! Mein Mann war zwar ein fleißiger Arbeiter, aber handwerklich völlig unbegabt.«
»Wirklich?« Ruby konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre Mutter irgendetwas reparierte.
»Ja, das habe ich von meiner Mutter. Mein Vater hat getrunken, und wenn meine Mutter die Dinge nicht in Ordnung gebracht hätte, wären sie nie repariert worden. Ich habe ihr immer dabei zugeschaut, deshalb kann ich praktisch alles ausbessern oder instand setzen. Ich kenne mich sogar mit Automotoren aus, aber ich selbst habe schon seit Jahren kein Auto mehr. Ich kann auch ziemlich gut tischlern. Ich stelle Küchengeräte und Schneidebrettchen aus Holz her, und Charlie Gillard verkauft sie in seinem Laden.«
Ruby hatte staunend zugehört. Als jedoch der Name Charlie Gillard fiel, verfinsterte sich ihre Miene. »Sagen Sie, hat der Ladenbesitzer ein Alkoholproblem?«
Mrs. Cratchley blickte verblüfft drein. »Wie kommst du denn darauf?«
»Weil er Girra letzte Nacht am Fluss mit Gewalt mit sich zerren wollte. Ich bin zufällig dazugekommen.«
»Charlie Gillard! Unmöglich. So etwas würde er niemals tun.«
»Ich habe ihn vorhin auf sein übles Benehmen angesprochen, kam aber nicht dazu, den Zwischenfall am Fluss zu erwähnen. Er dachte, wir seien uns im Pub begegnet, und entschuldigte sich für das, was er möglicherweise getan oder gesagt hat. Er kann sich offensichtlich nicht daran erinnern, dass ich ihm mit meinem Koffer eins übergezogen habe, damit er von Girra ablässt.«
Mrs. Cratchley klappte der Unterkiefer herunter. »Das glaub ich einfach nicht!«, murmelte sie völlig verdattert. »Und du bist ganz sicher, dass es Charlie war? Ich meine, wenn es dunkel war …«
»Ganz sicher. Girra hat mir erzählt, dass es auch nicht das erste Mal war.«
»Es gibt ein paar Männer in der Stadt, bei denen mich das nicht überraschen würde«, meinte Myra Cratchley stirnrunzelnd. »Sie stellen gern den Aborigine-Mädchen nach, vor allem, wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben. Manchmal wird dann auch eine schwanger, doch heiraten tun sie sie nur in den seltensten Fällen. Aber Charlie? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
»Es ist aber so. Deshalb dachte ich, er hätte vielleicht ein Alkoholproblem.«
Mrs. Cratchley schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Vom Alter her könnte er Girras Großvater sein.«
»Ja, das stimmt. Er ist weit über sechzig, und Girra ist gerade fünfzehn geworden.«
Ruby schnalzte angewidert mit der Zunge. »Hat Girra denn nie eine Andeutung gemacht?«
»Nein, aber sie redet auch nicht viel. Außerdem haben die Aborigines kein Vertrauen zu den Weißen. Was in Anbetracht ihrer Geschichte ja nicht verwunderlich ist. Wärst du nicht zufällig hinzugekommen, hätte sie auch dir gegenüber nichts davon erwähnt.« Myra Cratchley konnte nicht fassen, was Ruby ihr von Charlie Gillard erzählt hatte. Sie war regelrecht schockiert. »Das hätte ich nie von Charlie gedacht. Ich kenne ihn jetzt schon so lange und habe ihn immer für einen anständigen Menschen gehalten.«
»Der Mann, den ich heute im Laden angetroffen habe, war ein ganz anderer als der von gestern. Er könnte sein guter Zwilling gewesen sein. Aber das ist noch nicht alles.«
»Was?«
Ruby nickte. »Ja. Girra hat mich doch vor der herannahenden Flut gerettet. Wir konnten gerade noch die Böschung raufklettern und uns in Sicherheit bringen. Plötzlich ist Charlie Gillard auf der anderen Seite des Flusses aufgetaucht. Er hatte Oola und Myall bei sich und schrie Girra zu, er werde dafür sorgen, dass die Regierung ihrer Familie die Kinder wegnehme und dass das nur ihre Schuld sei, weil sie gestern Abend nicht mit ihm gehen wollte.«
»O Gott, das arme Mädchen!« Mrs. Cratchley wurde langsam wütend auf Charlie.
»Kann die Regierung den Eltern wirklich die Kinder wegnehmen?«
»Leider ja. Sie
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