Im Hauch des Abendwindes
machen?«
Sie war fast pleite. Sie hatte nicht einmal eine Rückfahrkarte nach Sydney, weil sie damit gerechnet hatte, Geld aus dem Verkauf des Pferdes zu bekommen. Wenn nun nichts daraus wurde, würde sie am Ende noch in Fern Bay landen und mit ihrer Mutter bei ihrer Tante wohnen müssen.
»Vielleicht kann er dich nach dem nächsten Rennen ausbezahlen.«
»So lange kann ich nicht warten. Außerdem – wer sagt mir, dass das Pferd gewinnen wird? Ich muss irgendwie zu Geld kommen.«
»Dann wird dir nichts anderes übrig bleiben, als zu arbeiten«, erwiderte Myra. »Leute, die einen Haarschnitt brauchen, gibt es genug in dieser Stadt.«
Eine Stunde später standen Ruby und Myra zum zweiten Mal an diesem Vormittag vor Charlies Laden. Diesmal hatte er geöffnet. Nur eine einzige, etwa siebzigjährige Kundin stand vor den Lebensmittelregalen, studierte das Angebot und konnte sich offensichtlich nicht entscheiden.
»Das ist Ina Bobbin«, sagte Myra. »Sie muss ihre Nase ständig in anderer Leute Angelegenheiten stecken, nörgelt andauernd herum und ist eine richtige Nervensäge.«
Ruby guckte sie entsetzt an. Wie konnte Myra so daherreden, da die Frau keine drei Meter entfernt neben ihnen stand?
Als Mrs. Bobbin sich zu ihnen umdrehte, spannte Ruby sich unwillkürlich an und machte sich auf eine Auseinandersetzung gefasst. Doch Ina Bobbin lächelte Myra zu, und diese grüßte mit lauter Stimme zurück. Mrs. Bobbin hielt den Kopf schief, legte ihre Hand hinters Ohr und meinte, nein, sie wisse leider nicht, wie spät es sei. Anscheinend war die Gute stocktaub. Ruby entspannte sich wieder.
»Ich finde in diesem schlecht sortierten Laden nie, was ich suche«, klagte Mrs. Bobbin.
»Dann kauf eben in Broken Hill ein«, grummelte Myra, was Ina natürlich nicht hörte.
Sie solle ihre Lesebrille aufsetzen, schrie Charlie ihr zu, doch auch das hörte sie nicht, und der Ladenbesitzer zuckte resigniert die Achseln.
Myra reichte ihm den kleinen Eimer mit den zwei Dutzend Eiern, die sie im Hühnerstall gesammelt hatte.
»Danke, Myra, ich hatte schon keine mehr.« Charlie stellte den Eimer hinter dem Ladentisch ab, nahm ein paar Münzen aus einer Blechdose und drückte sie ihr in die Hand. »Deine neue Frisur gefällt mir«, sagte er bewundernd. »Du siehst viel jünger aus, wie eine Vierzigjährige.«
Myra errötete, bedankte sich aber nicht für das Kompliment. Sie war sichtlich sauer auf Charlie. Myra steckte das Geld in ihren kleinen Geldbeutel, sah Charlie an und sagte streng: »Wir müssen mit dir reden, Charlie.«
»So?«
Charlie streifte Ruby mit einem nervösen Seitenblick. Ging es etwa wieder darum, was er letztens im Pub getan oder gesagt hatte? Er wünschte, er könnte sich erinnern.
»Ruby würde gern einen der leer stehenden Läden für ein paar Tage übernehmen.«
»Was?« Charlie guckte sie verdutzt an. »Wozu braucht sie ihn denn?«
»Ich bin Friseurin«, warf Ruby ein, »und mir scheint, in dieser Stadt könnte jeder einen Haarschnitt vertragen.«
»So?«, sagte Charlie noch einmal. Er wirkte überrascht, dass sie eine besondere Fähigkeit besaß.
»Ja, ich brauche weder viel Platz noch eine Ladeneinrichtung. Ich werde nur schneiden, nicht waschen oder Dauerwellen legen oder solche Dinge. Und weil ich Ihnen keine Miete bezahlen kann, dachte ich, ich gebe Ihnen zehn Prozent vom Umsatz. Was sagen Sie dazu?«
»Zwanzig Prozent wären besser«, antwortete Charlie wie aus der Pistole geschossen.
»Charlie Gillard!« Myra drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Du bist mir einige Erklärungen schuldig, versuch also nicht, diese junge Dame über den Tisch zu ziehen!«
»Schon gut, schon gut!« Charlie hob beschwichtigend beide Hände. »Einverstanden, zehn Prozent.« Er wandte sich Ruby zu. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Nun, ich brauche bloß einen Stuhl, einen Besen und einen Abfalleimer. Ach, und ein Schild, das ich draußen vor dem Laden aufstellen kann. Darauf möchte ich schreiben, was ich anbiete und was es kostet.«
»Gut. Ich will nur noch Mrs. Bobbin bedienen, dann werde ich euch die Läden zeigen.«
Ruby und Myra gingen schon vor und überlegten, welche der beiden Räumlichkeiten sich besser eignete. »Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich meinen eigenen Salon haben werde«, sagte Ruby ganz aufgeregt. »Das war schon immer mein Traum, ein eigener Salon in Sydney! Deshalb will ich ja meinen Anteil an dem Pferd verkaufen. Ich möchte ein Geschäft wie das, in dem ich gearbeitet habe,
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