Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
von Ärzten, den die islamische Welt hervorbrachte? Was für eine medizinische Ausbildung hatte er überhaupt? Wenn wir dann das medizinische Wissen 1000 Jahre in die Vergangenheit projizieren, können wir zu Recht fragen, was für eine Medizin eigentlich in der Welt der Abassiden praktiziert wurde. Auch hier finden wir wieder die übliche abendländische Ansicht vor, wonach die medizinischen Kenntnisse in der Frühzeit des Islam weit danebenlagen. Dabei macht man häufig den Fehler, die medizinischen Kenntnisse, die im Goldenen Zeitalter des Islam entwickelt und praktiziert wurden, mit einer sogenannten »islamischen Medizin« zu verwechseln. Dieser Begriff hat eine ganz bestimmte Bedeutung und bezeichnet eine noch heute lebendige medizinische Tradition, in der sich die Lehren aus Koran und Hadith mit aristotelischer Philosophie, antiken Kräuterarzneien und Ernährungsratschlägen verbinden – alles vermischt mit einer großzügigen Dosis gesunden Menschenverstand und Hokuspokus. Deshalb passt es sehr gut zu dem, was wir heute nicht als richtige medizinische Wissenschaft, sondern als komplementäre oder ganzheitliche Medizin bezeichnen.
Ich möchte hier etwas anderes deutlich machen: Alle diese Faktoren spielten zwar in der medizinischen Praxis des 9., 10. und 11. Jahrhunderts in Bagdad und anderswo eine wichtige Rolle, viele islamische Ärzte bemühten sich aber auch darum, die Medizin sorgfältiger quantitativ und objektiv zu erfassen – und keiner tat das energischer als Abu Bakr Muhammad ibn Zakarriyya al-Razi, der größte Arzt des Islam und sogar des gesamten Mittelalters. Er leistete Pionierarbeit auf so vielen Gebieten der medizinischen Wissenschaft von der Kinderheilkunde bis zur Psychiatrie hin, dass ich allein damit, sie alle aufzuzählen, eine ganze Seite füllen könnte. Wie bei al-Khwarizmi und der Algebra eine Generation früher, so müssen wir auch hier zuerst einmal wissen, welche medizinischen Kenntnisse al-Razi eigentlich erbte.
Wie immer, wenn wir nach den Ursprüngen der Medizin suchen, beginnen wir im alten Ägypten. Trotz aller Wunder und Errungenschaften der Ägypter unterschied sich ihre Kultur in einem Punkt deutlich von der Griechenlands und Babylons: Mit ihrer Wissenschaft waren keinerlei theoretische oder metaphysische Überlegungen verbunden. Für die Ägypter war Wissenschaft ausschließlich ein praktisches Hilfsmittel, und in diese Kategorie fiel sogar die Medizin. Deshalb schrieb Plato in seinem Staat über die Liebe der Griechen zur Gelehrsamkeit und die Liebe der Ägypter zum Reichtum. Die Ägypter verfügten über außergewöhnlich gute Fähigkeiten im Einbalsamieren, wussten aber erstaunlich wenig über die menschliche Anatomie. Wie andere alte Zivilisationen in Indien und China, deren medizinische Tradition bis in die Vorgeschichte zurückreicht, so erscheint uns auch die ägyptische Medizin heute in großen Teilen sehr grob und abwegig. Ihr Heilmittel gegen Migräne bestand beispielsweise darin, dass der Patient seitlich am Kopf mit einem Umschlag abgerieben wurde, den man aus dem Schädel eines Welses hergestellt hatte, damit die Schmerzen auf das Tier übergingen. Ich kann es aber nicht oft genug betonen: Wir sollten über solche eigenartigen Vorstellungen kein allzu hartes Urteil fällen. Sie sind nicht eigenartiger als viele volkstümliche Therapieverfahren, die noch heute auf der ganzen Welt praktiziert werden, auch im sogenannten »aufgeklärten« Westen.
Ohnehin entwickelten die Ägypter auch viele sinnvolle Methoden, beispielsweise die Verwendung von Mull, das Nähen von Wunden, die Ruhigstellung von Brüchen mit Stöcken und das Ausstechen von Tumoren mit einer erhitzten Lanzette. Die Griechen übernahmen später vieles aus der ägyptischen Medizin und machten sie zu einem richtigen wissenschaftlichen Fachgebiet, das mit den Arbeiten von Galen seinen Höhepunkt fand.
Weiter im Osten, in Indien, hat die vedische Tradition eine lange Geschichte, die auf Ursprünge in Magie, Religion und Mythologie zurückgeht und in manchen Regionen der Erde noch heute als eine Art Komplementärmedizin praktiziert wird. Sie besagt, dass jede der fünf Grundsubstanzen, aus denen das Universum besteht – Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum – einem Bestandteil des menschlichen Körpers entspricht: Gewebe, Körpersaft, Galle, Atem und Körperhöhlen. Wie in der gesamten antiken Medizin und überhaupt in vielen Teilen der antiken Wissenschaft handelt es sich um eine Mischung aus
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