Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Entschlossenheit, Texte aus Fremdsprachen, die er nicht beherrschte, zu entschlüsseln und zu übersetzen. Man kann sich fast ausmalen, wie er ungeduldig seine Übersetzer drängte und piesackte, damit sie ihre Arbeit an wichtigen griechischen Abhandlungen beschleunigten, und da er nicht warten konnte, erfand er Methoden, um den unbekannten Text selbst zu entschlüsseln. Ausgerüstet mit der richtigen Übersetzung weniger Wörter, konnte er ermitteln, mit welcher Häufigkeit verschiedene Buchstaben in dem jeweiligen Text vorkamen, und im weiteren Verlauf stellte er dann Verbindungen zwischen verschiedenen Buchstaben und Wörtern her, bis er den Code der Sprache entschlüsselt hatte und ganze Sätze verstehen konnte.
Al-Kindi war auch der erste große Musiktheoretiker der arabisch-islamischen Welt. Er übertraf die Leistungen der griechischen Musiker, indem er eine alphabetische Schreibweise für Achtelnoten verwendete. Ebenso erkannte er den therapeutischen Wert der Musik und bemühte sich darum, einen querschnittsgelähmten Jungen mit Musiktherapie zu behandeln. Man weiß, dass er zahlreiche Texte über Musiktheorie schrieb, von denen allerdings nur fünf bis heute erhalten sind. In einem davon verwendete er zum ersten Mal auf Arabisch das Wort musiqa , abgeleitet von dem griechischen musike (»Kunst der Musen«).
Al-Kindi unterschied sehr genau zwischen dem, was er für Wissenschaft hielt, und jenem, das in seinen Augen Aberglaube war. »Die Kunst« (die Alchemie) hielt er für Betrug, und die ganze Vorstellung, unedle Metalle in Gold zu verwandeln, war nach seiner Ansicht Scharlatanerie; dies machte er in seiner Abhandlung Die Täuschungen der Alchemisten deutlich. [118] Andererseits glaubte er vorbehaltlos an die Astrologie, er versuchte aber zumindest, sie wissenschaftlich-rational zu begründen und von ihrer eher volkstümlichen Verbindung mit Horoskopen und Wahrsagerei zu trennen. Er erkannte auch Hellseherei und göttliche Eingebungen durch Träume als wahr an und versuchte, Träume mit einer Art grober Psychologie zu verstehen. Bevor wir solche altmodischen Vorstellungen allzu vorschnell verächtlich machen, sollten wir daran denken, wie viele Menschen auf der Welt noch heute solche Ansichten haben; selbst einige große Gestalten aus der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts engagierten sich intensiv in der Erforschung des Paranormalen.
Als al-Ma’mun starb, war al-Kindi noch relativ jung; im weiteren Verlauf diente er unter mehreren Kalifen, angefangen bei al-Ma’muns Nachfolger al-Mu’tasim (833–842), dem er eine Reihe seiner wichtigsten Abhandlungen widmete. Aber al-Mu’tasim und sein Sohn al-Wathiq regierten nur neun beziehungsweise fünf Jahre. Auf die beiden folgte al-Wathiqs jüngerer Bruder al-Mutawakkil (847–861), der in krassem Gegensatz zu allen früheren Abassidenkalifen wenig Interesse für Wissenschaft und Gelehrsamkeit erkennen ließ; er wandte sich gegen den Rationalismus und bevorzugte eine stärker wörtliche Interpretation des Korans und der Hadith . Damit war al-Ma’muns mihna zu Ende. Natürlich haben wir keinen Grund zu der Annahme, das al-Kindi selbst die mihna unterstützte. Er stand sogar manchen Ideen des Mu’tazilismus kritisch gegenüber; dies kann man dem Anfangskapitel seiner Abhandlung Über die Erste Philosophie entnehmen, [119] die er während al-Mu’tasims Regierungszeit verfasste.
Mit al-Mutawakkil begegnet uns der erste in einer ganzen Reihe eher konservativer Kalifen und damit auch der Beginn der Gegenreaktion gegen Gedankenfreiheit und liberale Theologie der Mu’taziliten-Bewegung. Da al-Mutawakkil Gelehrte oftmals gewaltsam verfolgte, wenn deren Ansichten nicht mit seiner stärker fundamentalistischen Version des Islam in Einklang standen, schwang das theologische Pendel nun von al-Ma’muns mihna ins andere Extrem; beide Herrscher machten sich bei denen, die ihre jeweiligen Ansichten nicht teilten, alles andere als beliebt. Selbst al-Kindi blieb nicht verschont. Er gehörte zwar selbst nicht zu den Mu’taziliten, liebäugelte aber mit ihren Ansichten und musste nun plötzlich feststellen, dass er auf der falschen Seite stand. Er fiel einer mutmaßlichen Verschwörung zum Opfer, die von den mächtigen Brüdern Banu Musa angeführt wurde: Diese kultivierten eine boshafte, ans Gefährliche grenzende Haltung gegenüber allen, die ihnen über den Weg liefen.
Die Brüder waren neidisch auf al-Kindis umfangreiche Bibliothek und wussten, dass es nur einen Weg
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