Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Aberglauben und wissenschaftlichen Kenntnissen, die aber immer praktischen Nutzen und eine große Bedeutung hat. [123]
Die Griechen erbrachten natürlich in der Medizin – wie auf fast allen Gebieten – hervorragende Leistungen und können sich rühmen, zwei der größten Ärzte der Antike hervorgebracht zu haben, zwischen denen bemerkenswerterweise ein halbes Jahrtausend liegt: Hippokrates (Hauptaktivität 420er Jahre v.u.Z.) und Galen (ca. 130–216 u.Z.). Als bemerkenswert bezeichne ich dies nur deshalb, weil wir die beiden im Zusammenhang mit der griechischen Medizin häufig in einem Atemzug nennen – vom zeitlichen Rahmen her wäre das ungefähr so, als würde man behaupten, die beiden größten Gestalten der modernen europäischen Kosmologie seien Kopernikus und Stephen Hawking. Hippokrates hinterließ der Medizin ein vergleichbares Erbe wie Pythagoras der Mathematik. Und wie bei dem Mathematiker sind auch sein Leben und seine Leistungen ein wenig geheimnisumwittert. Beide begründeten Denkschulen, die wichtiger werden sollten als ihre Gründer. Und wie die pythagoreischen Mathematiker, so leisteten auch die hippokratischen Ärzte einen erstaunlichen, dauerhaften Beitrag zur Medizin. Sie begriffen, dass der menschliche Organismus ein komplexes Ganzes ist und dass es wahre Weisheit bedeutet, wenn man seine natürlichen Tätigkeiten versteht, unterstützt und anregt. Als Erste nahmen sie keine Trennung von Körper und Seele vor, sondern sie betrachteten den Menschen als untrennbaren Bestandteil seiner physischen und gesellschaftlichen Umwelt.
Eine noch wichtigere Gestalt in der Geschichte der Medizin – manch einer würde sogar sagen: die wichtigste überhaupt – ist Galen. Seine Arbeiten und Gedanken beeinflussten mehr als 1000 Jahre lang das gesamte medizinische Wissen der Welt. Er wurde ca. 130 v.u.Z. in Pergamon geboren, einer Stadt, die zu jener Zeit wegen ihrer vielen Ärzte berühmt war. Nachdem er in Alexandria studiert hatte, kehrte er nach Pergamon zurück und wurde dort Arzt an der Gladiatorenschule (was ihm sicher viel Arbeit auf den Gebieten von Chirurgie und Ernährungswissenschaft verschaffte). Mit knapp über 30 Jahren ging er nach Rom, wo er mit seinen öffentlichen Vorträgen berühmt wurde. Nach weiteren Reisen durch den Mittleren Osten kehrte er zurück und wurde Leibarzt des Kaisers. Er war ein überaus produktiver Autor und verfasste Bücher über alle Aspekte der Medizin.
Im Mittelalter bauten die medizinischen Kenntnisse in großem Umfang auf den Fundamenten auf, die in der griechischen Antike gelegt worden waren. Die am höchsten geschätzten medizinischen Werke, die auch mit als Erste ins Arabische übersetzt wurden, waren einige Bücher von Galen. Dieser glaubte, die Gesundheit eines Menschen hänge von einem Gleichgewicht zwischen verschiedenen Körpersäften ab, die im Körper zirkulieren; jeder dieser Säfte konnte aus dem Gleichgewicht geraten und dann Krankheiten oder Stimmungsschwankungen verursachen. Diese Säfte waren (und hier vereinfache ich die Beschreibung): die gelbe Galle, die, wenn sie im Überschuss vorhanden war, den Patienten »gallig« oder übellaunig machte und Übelkeit hervorrief; das Blut – zu viel davon machte den Patienten sanguinisch und jähzornig; die schwarze Galle, deren Überschuss Teilnahmslosigkeit und Melancholie verursachte; und der Schleim, der den Patienten »phlegmatisch« oder apathisch und emotional gleichgültig machte. Nach Galens Ansicht entstanden Krankheiten, wenn einer dieser Säfte in übermäßig großer Menge vorhanden ist; die Heilung, so erklärte er, sei dadurch zu erreichen, dass man den Überschuss auf irgendeine Weise aus dem Körper entfernt. Zu diesem Zweck empfahl er Verfahren wie den Aderlass – Blutungen durch künstlich gesetzte Schnitte – oder den Einsatz von Brechmitteln (Emetika).
Aber Galens Ideen waren nicht alle so absurd. Seine Beschreibungen der menschlichen Anatomie gründeten sich auf das, was er beim Sezieren von Affen gelernt hatte; Menschen zu sezieren war nicht gestattet, aber seine Arbeiten hatten in ihrer Detailtreue nicht ihresgleichen, bis Andreas Vesalius 1543 sein berühmtes, illustriertes Anatomiebuch De humani corporis fabrica veröffentlichte. Galens Ausführungen über die Tätigkeit von Herz, Arterien und Venen überdauerten mehr als 1000 Jahre, bis ibn al-Nafis im 13. Jahrhundert den Durchgang des Blutes durch die Lunge beschrieb und bis William Harvey viel später, nämlich im 17.
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