Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
gab, die Sammlung in die Hände zu bekommen: Sie mussten sich gegen ihn verschwören und intrigieren, bis sie den Kalifen überzeugen konnten, ihn zu vertreiben. Al-Kindi wurde körperlich angegriffen, seine Bibliothek wurde beschlagnahmt und den Brüdern zugesagt. Aber sie behielten die Bücher nicht lange: Nachdem der Kalif ihnen befohlen hatte, einen Kanal zu bauen, machte ihr Ingenieur seine Sache bei dem Projekt so schlecht, dass sie ihren Kollegen Sind ibn Ali bitten mussten, beim Kalifen ein gutes Wort für sie einzulegen und sie gehen zu lassen. Sind erklärte sich dazu offensichtlich bereit, aber nur unter der Bedingung, dass sie al-Kindis Bibliothek zurückgaben. [120]
Obwohl nun wieder im Besitz seiner Bibliothek, blieb al-Kindi für den Rest seines Lebens ein einsamer Mann. Nach seinem Tod gerieten seine philosophischen Arbeiten schnell in Vergessenheit, und viele seiner Texte waren selbst späteren islamischen Gelehrten und Historikern nicht mehr bekannt. Einige jedoch sind in Form lateinischer Übersetzungen erhalten geblieben, andere wurden als arabische Manuskripte wiederentdeckt. All das macht jedoch nur einen Bruchteil seines gesamten Œuvres aus, das in anderen Quellen zitiert wird. Dass ein so großer Teil seiner Arbeiten verlorenging, dürfte unter anderem daran gelegen haben, dass die Mongolen die Bibliothek im Haus der Weisheit 1258 zerstörten. [121]
Aber al-Kindis Vermächtnis war nicht völlig vergessen; weitergetragen wurde die Fackel schließlich im 10. Jahrhundert von al-Farabi, einem Philosophen türkischer Abstammung, der al-Kindis Mission, die griechische Philosophie und insbesondere die Werke von Aristoteles zu islamisieren, fortsetzte. Al-Farabi baute mit seiner Philosophie auf den Arbeiten al-Kindis auf, erweiterte sie und stellte sie sogar in den Schatten. Während al-Kindi die Philosophie als Erster eingeführt und zur Handlangerin der Theologie gemacht hatte, womit er sich einer traditionalistischen Form des Islam stärker annäherte als al-Farabi, unternahm dieser einen ernsthafteren, ausgereifteren Versuch, Offenbarung und Prophezeiungen aus rein philosophischer Sicht zu verstehen. Al-Kindi hielt es für das Ziel der Metaphysik, Gott kennenzulernen – nach seiner Überzeugung beschäftigten sich Philosophie und Theologie mit dem gleichen Gegenstand. Al-Farabi war ausdrücklich anderer Ansicht und argumentierte, die Metaphysik handle in Wirklichkeit von dem, was man über den Beweis für Gottes Existenz behaupten könne, sage aber nichts über Sein Wesen oder Seine Eigenschaften.
Ein anderer Unterschied bestand darin, dass al-Kindi glaubte, die göttliche Offenbarung müsse über rationale Überlegungen siegen, wenn beide in Konflikt gerieten, wie beispielsweise in der Frage der körperlichen Wiederauferstehung beim Jüngsten Gericht; al-Farabi dagegen erklärte, rationale philosophische Überlegungen seien mächtiger als die symbolischen Ausdrucksformen offenbarter Wahrheiten in der Religion; und das, obwohl er in einer Zeit lebte, in der die Gegenreaktion gegen die Philosophen bereits begonnen hatte und die rationalistische Ideologie der Mu’taziliten allgemein auf Feindseligkeit stieß.
Al-Farabi erweiterte zwar die Gedanken seines Vorgängers und wurde sicher von späteren Philosophen häufiger zitiert – was teilweise daran lag, dass ein größerer Teil seiner Arbeit erhalten geblieben ist –, nach meiner Ansicht hat er das Prädikat der Größe aber nicht in gleichem Umfang verdient. Al-Farabi war weder ein Universalgelehrter, noch interessierte er sich sonderlich für empirische Wissenschaft. Wie viele griechische Philosophen vor ihm, so ging es auch ihm weniger um Physik als vielmehr um Metaphysik. Al-Kindi dagegen war der echte Renaissancegelehrte des Islam.
Die Fackel der Philosophie wurde schließlich von al-Farabi an zwei Männer weitergegeben, die in Europa wesentlich größere Bekanntheit erlangten als al-Kindi oder al-Farabi. Beide beeinflussten zahlreiche Denker der Renaissance. Sie hießen Ibn Sina und Ibn Rushd, sind im Westen aber besser unter ihren lateinischen Namen bekannt: Avicenna und Averroës. Beide hatten es den von al-Kindi gelegten Grundlagen zu verdanken, dass sie so viel erreichen konnten. In seiner Synthese aus den Lehren des Aristoteles und islamischer Theologie sollte man ein unentbehrliches Glied in einer ununterbrochenen Kette sehen, die von der Philosophie des alten Griechenland zu einer modernen abendländischen Philosophie reicht,
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