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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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überraschen und zu Fall bringen konnte.
    Kein dunkler Räuber glitt aus dem Schatten der Nacht, und das einzige Geräusch kam von ihrer Bewegung: dem sanften Krachen der Schneekruste unter ihren Skiern.
    Der Wald wurde während ihrer Fahrt immer lichter, und nach einer Stunde hatte Shawn ihn zur Gänze hinter sich gelassen und ein Ödland voll umgestürzter Steinblöcke und verbogenen, verrosteten Metalls erreicht.
    Sie kannte diesen Anblick; denn sie sah solche Ruinen nicht zum ersten Mal, wo Familien gelebt hatten und gestorben waren. Ihre Hallen und Häuser verrotteten jetzt. Aber noch nie hatte Shawn eine so großflächige Ruine gesehen. Die Familie, die hier gelebt hatte, vor wer weiß wie langer Zeit, mußte einmal sehr groß gewesen sein. Die zerbröckelnden Überbleibsel ihrer Ansiedlung dehnten sich über ein Gebiet aus, in das über hundert Carinhalls hineingepaßt hätten. Sie suchte sich vorsichtig einen Weg durch das baufällige, schneebedeckte Ge-mäuer. Zweimal kam sie an Gebilden vorbei, die noch recht intakt aussahen, und jedesmal überlegte Shawn, ob sie nicht im Schutz dieser alten Steinmauern die Nacht verbringen sollte. Aber dann konnte sie in ihnen keine Quelle dieses Lichts entdecken. So fuhr sie nach einer sehr kurzen Inspizierung weiter. Der Fluß, den Shawn bald danach erreichte, hielt sie schon etwas länger auf.
    Vom hohen Ufer, wo sie sich niederließ, konnte sie die Reste von zwei Brücken entdecken, die sich einst über den schmalen Wasserlauf gespannt hatten. Aber beide waren schon vor langer Zeit eingestürzt. Der Fluß war glücklicherweise zugefroren. Daher hatte Shawn keine Schwierigkeiten, ihn zu überqueren. Der Tiefwinter machte das Eis dick und fest, und es bestand keine Gefahr für sie, einzubrechen.
    Als Shawn unverdrossen am jenseitigen Ufer hochstieg, entdeckte sie die Blume.
    Es war ein sehr kleines Pflänzchen. Sein dicker, schwarzer Stengel sproß zwischen zwei Steinen am Flußufer hoch. Vielleicht hätte Shawn die Pflanze in der Nacht nie entdeckt, aber ihr Skistock hatte einen der eisbedeckten Steine aus seinem Bett gelöst, als Shawn sich das Ufer hochgemüht hatte. Das dabei entstehende Geräusch hatte sie nach unten, genau auf die Stelle blicken lassen, wo die Pflanze wuchs.
    Die Blume verwunderte Shawn so sehr, daß sie beide Skistöcke in die eine Hand nahm und mit der anderen in ihrer Kleidung nach etwas suchte, mit dem sie Feuer machen konnte. Das Streichholz gab einen kurzen, hellen Schein, der aber für Shawns Augen ausreichte.
    Eine kleine Blume, sehr klein, mit vier blauen Blütenblättern, jedes in der gleichen blauen Tönung wie Lanes Lippen, kurz bevor er gestorben war. Eine Blume, hier und lebendig, wuchs im achten Jahr des Tiefwinters, wo alles andere auf der Welt tot war.
    Keiner wird mir glauben, sagte sich Shawn, so lange nicht, bis ich den Beweis nach Carinhall bringe. Sie legte die Skier ab und versuchte, die Blume herauszuziehen.
    Aber das war zwecklos, so zwecklos wie ihre Bemühungen, Lane zu beerdigen. Der Stengel war so stark wie Draht. Etliche Minuten mühte sich Shawn mit ihm ab und kämpfte gegen ihre Tränen an, als der Stengel sich nicht rühren wollte. Creg würde sie eine Lügnerin nennen und eine Träumerin, und all das, als was er sie ständig bezeichnete.
    Aber schließlich konnte sie die Tränen zurückhalten.
    Shawn ließ die Pflanze stehen und stieg bis nach oben auf das Flußufer. Dort hielt sie einen Moment lang inne.
    Vor ihr breitete sich Meter um Meter ein weites, offenes Feld aus. An manchen Stellen massierte sich der Schnee in großen Wehen, und an anderen lagen flache Steine, die sich nackt dem Wind und der Kälte präsentierten. Aber in der Mitte des Bildes erhob sich das merkwürdigste Gebilde, das Shawn je gesehen hatte: ein großes, dickes Ding, wie eine Träne geformt, das wie ein Tier auf drei schwarzen Beinen im Licht der Sterne kauerte. Die Beine waren angewinkelt, als bereite sich das Tier darauf vor, geradewegs in den Himmel zu springen, an den Gelenken über und über mit Eis bedeckt. Sowohl die Beine als auch das Gebilde waren voller Blumen.
    Die Blumen waren überall, entdeckte Shawn, als sie den Blick lange genug über das kauernde Ding streifen ließ. Sie sprossen einzeln oder in Gruppen aus jeder Spalte im Feld; an allen Seiten umgeben von Eis und Schnee, schufen sie kleine Lebensinseln in der reinen, weißen Landschaft des Tiefwinters.
    Shawn näherte sich durch die Blumen hindurch dem Ding, bis sie

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