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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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weitergefüttert, aber ihm das verheimlicht. Jetzt war ihr nicht mehr viel zu essen übriggeblieben, und die Geborgenheit von Carinhall lag fast zwei Wochen harten Marsches entfernt. Im Tiefwinter war das dasselbe wie zwei Jahre.
    Während Shawn sich unter ihrem Cape
    zusammenrollte, überlegte sie, ob sie ein Feuer anzünden sollte. Ein Feuer lockte Vampire an – sie konnten die Wärme noch aus drei Kilometern Entfernung ausmachen.
    Die Vampire würden sich leise zwischen den Bäumen heranschleichen: hagere, schwarze Schatten, größer, als Lane es gewesen war, ihre lose Haut läppte über die skelettartigen Glieder wie ein dunkler Umhang, falls man ihre Klauen außer Betracht ließ. Wenn sie sich auf die Lauer legte, könnte sie einen Vampir überraschen und erledigen. Ein ausgewachsener Vampir brächte Shawn ausreichend Nahrung für die Rückkehr nach Carinhall.
    Sie grübelte darüber nach und verwarf den Gedanken widerwillig. Vampire konnten so rasch über den Schnee rennen wie ein fliegender Pfeil, kaum berührten sie im Lauf den Boden, und es war so gut wie ausgeschlossen, in der Nacht ein solches Wesen auszumachen. Aber die Vampire konnten Shawn sehr gut erkennen, durch die Wärme, die sie ausstrahlte. Das Entfachen eines Feuers garantierte ihr lediglich einen schnellen und relativ schmerzvollen Tod.
    Shawn erschauerte und faßte den Knauf ihres Langmessers fester, um darin Sicherheit zu finden.
    Plötzlich wähnte sie in jedem Schatten einen verborgenen Vampir. Und im Wehklagen des Windes glaubte sie das klatschende Geräusch zu hören, das die Haut der Vampire machte, wenn sie rannten.
    Dann erreichte ein lauteres und wirklicheres Geräusch ihre Ohren: ein wütendes, hochtöniges Pfeifen, wie Shawn es noch nie zuvor vernommen hatte. Und urplötzlich wurde der schwarze Horizont in Licht getaucht, ein geisterhaft blauschimmerndes Strahlen, das die nackten Gebeine des Walds umriß und deutlich sichtbar am Himmel pulsierte. Shawn sog tief die Luft ein –
    ein Eishauch drang in ihre rauhe Kehle –, sie mühte sich aufzustehen, da sie unterbewußt einen Angriff befürchtete. Aber nichts weiter geschah. Die Welt blieb kalt und schwarz und tot; nur das Licht lebte und schimmerte gedämpft am Horizont und nickte ihr zu, schien Shawn zu rufen. Lange Minuten beobachtete sie das Licht und dachte zurück an den alten Jon und die schrecklichen Geschichten, die er den Kindern zu erzählen pflegte, wenn sich alle um den großen Herd in Carinhall versammelt hatten. Es gibt schlimmere Dinge als Vampire, erzählte Jon immer wieder. Und während Shawn sich daran erinnerte, war sie plötzlich wieder das kleine Mädchen, das auf den dicken Fellen mit dem Rücken zum Feuer saß und Jon zuhörte, wie er von Geistern, lebenden Schatten und Kannibalenstämmen erzählte, die in gewaltigen, aus Knochen gebauten Burgen hausten.
    So abrupt, wie es gekommen war, verblaßte das fremde Licht und verschwand. Und mit ihm hörte das hochtönige Geräusch auf. Shawn hatte sich aber den Ort des Leuchtens gemerkt. Sie nahm ihr Bündel auf und legte sich Lanes Umhang um, damit er sie zusätzlich wärmte.
    Dann befestigte sie ihre Skier. Sie war jetzt kein kleines Kind mehr, sagte sich Shawn, und das Licht war kein Geistertanz gewesen. Was immer auch dahinterstecken mochte, es könnte ihre letzte Chance sein. Sie nahm die Skistöcke fest in die Hand und glitt lautlos auf den Ort des Leuchtens zu.
    Eine Reise bei Nacht war das Allergefährlichste, und das wußte Shawn. Creg hatte ihr das über hundertmal erklärt, und ebenso Lane. In der Dunkelheit, beim matten Schein der Sterne konnte man leicht vom Weg abkommen und die Skier zerbrechen oder ein Bein oder etwas noch Schlimmeres. Und Bewegung erzeugte Wärme; Wärme, die die Vampire aus der Tiefe der Wälder anlockte. Es wäre besser gewesen, bis zum Morgengrauen im Schutz der Schwarzlohe zu verbleiben, wenn die Nachtjäger sich in ihre Lager zurückgezogen hatten. Ihre ganze Ausbildung und ihre Instinkte warnten sie. Aber der Tiefwinter herrschte, und als sie einen Moment lang zum Ausruhen innehielt, kroch die Kälte beißend durch ihre wärmsten Felle. Und Lane war tot, und Shawn war hungrig, und das Licht war so nahe gewesen, so schmerzhaft nahe. Also folgte sie ihm langsam und behutsam. Und in dieser Nacht wollte es so scheinen, als schütze Shawn ein Zauberbann. Das Gelände war flach und sanft zu ihr, fast freundlich. Die Schneedecke war dünn genug, daß keine Wurzel und kein Stein sie

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