Im Haus des Wurms
enttäuscht. Jetzt konnte sie ihn nicht einmal mehr beerdigen.
Schließlich wußte sie nicht mehr, was sie noch tun konnte, und küßte ihn ein letztes Mal. – Eis war in seinem Bart und seinen Haaren, und sein Gesicht war unnatürlich von Schmerz und Kälte verzerrt, aber trotzdem gehörte er noch zur Familie. Dann kippte sie das Schrägdach auf seinen Körper und vervollständigte die Bahre mit Ästen und Schnee. Das war nutzlos, und sie wußte es: Vampire und Windwölfe würden es leicht beiseite schieben, um an sein Fleisch zu kommen. Aber Shawn wollte ihn nicht ohne irgendeinen Schutz zurücklassen.
Sie beließ ihm seine Skier und seinen großen Silberholzbogen, dessen Sehne in der Kälte entzweigerissen war. Aber sie nahm sein Schwert und seinen schweren Fellumhang. Bei der Menge ihres Gepäcks machte das auch nicht mehr viel aus. Fast eine Woche hatte sie ihn gepflegt, nachdem er von dem Vampir verwundet worden war. Der lange Aufenthalt unter dem Schrägdach hatte den Großteil ihrer Nahrungsmittel aufgezehrt. Shawn hoffte, jetzt leichter und schneller reisen zu können. Sie zog sich die Skier an, blieb noch eine Weile neben dem behelfsmäßigen Grab stehen, das sie ihm errichtet hatte. Während sie sich auf ihre Skistöcke stützte, sagte sie ihm ein letztes Mal Lebewohl. Dann fuhr sie über den Schnee los, durch die erschreckende Stille der Tiefwinterwälder in Richtung Heim, Feuer und Familie. Mittag war gerade vorüber. In der Dämmerung wußte Shawn, daß sie es nie schaffen würde.
Sie war jetzt ruhiger, dachte rationaler. Ihre Klagen und ihre Scham hatte sie bei seinem Leichnam zurückgelassen, wie man es ihr beigebracht hatte. Die Stille und die Kälte waren allgegenwärtig um sie herum.
Aber die lange Skifahrt hatte sie erröten lassen, und es war ihr fast warm unter den Kleidungsstücken aus Leder und Fell. Ihre Gedanken hatten die spröde Klarheit des Eises, das in langen Zapfen von den nackten, verbogenen Bäumen um sie herumhing.
Als die Dunkelheit ihren Mantel über der Welt ausbreitete, suchte Shawn eine geschützte Stelle im Windschatten des größten Baumes – eine massive Schwarzlohe mit einem Umfang von drei Metern. Shawn breitete den Fellumhang, den sie mitgenommen hatte, auf einer bloßen Bodenstelle aus und zog ihr eigenes wollenes Cape wie eine Decke über sich, um sich vor dem aufkommenden Wind zu schützen. Sie lehnte sich an den Stamm, zog für alle Fälle das Langmesser unter das Cape und schlief, kurz und ständig auf der Hut. Mitten in der Nacht wachte sie auf und überdachte die Fehler, die ihr unterlaufen waren.
Die Sterne standen am Himmel; Shawn konnte sie durch die nackten schwarzen Äste über sich blinzeln sehen. Der Eiswagen beherrschte den Himmel und brachte die Kälte auf die Welt, wie er das schon getan hatte, solange Shawn zurückdenken konnte. Die funkelnd blauen Augen des Wagenlenkers starrten höhnisch auf sie herab.
Der Eiswagen hat Lane getötet, dachte Shawn bitter, nicht die Vampire. Der Vampir hatte Lane in jener Nacht schwer verwundet, als die Bogensehne gerissen war, während er sie zu seiner Verteidigung gespannt hatte. Zu einer anderen Jahreszeit hätte er mit Shawns Pflege überlebt. Im Tiefwinter war er ohne Chance. Die Kälte war durch alle Schutzmaßnahmen gekrochen, die sie ihm gebaut hatte. Die Kälte hatte alle Kraft und Wildheit aus Lane herausgesaugt. Die Kälte hatte aus ihm ein eingeschrumpftes weißes Etwas gemacht, erstarrt und blaß, die Lippen blaugefärbt. Und jetzt schickte sich der Lenker des Eiswagens an, Lanes Seele zu fordern.
Und auch die von Shawn, das wußte sie. Sie hätte Lane seinem Schicksal überlassen sollen. Creg jedenfalls würde so gehandelt haben, Leila auch, jeder aus der Familie. Nie hatte Grund zur Hoffnung bestanden, Lane würde überleben, nicht im Tiefwinter. Nichts konnte im Tiefwinter überleben. Die Bäume wurden in dieser Jahreszeit starr und nackt, das Gras und die Blumen verschwanden, die Tiere erfroren oder verschwanden unter der Erde zum Winterschlaf. Sogar die Vampire und Windwölfe magerten ab und verwilderten, und viele von ihnen verhungerten vor dem Einsetzen des Tauwetters.
Genauso, wie Shawn verhungern würde.
Sie waren schon drei Tage überfällig gewesen, als der Angriff des Vampirs kam. Lane hatte die Nahrungsmittel scharf eingeteilt. Und nach dem Angriff war er viel zu schwach gewesen. Seine eigene Ration war bereits am vierten Tag aufgebraucht, und Shawn hatte ihn aus ihrer Ration
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