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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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erinnerte sich, und plötzlich zerrte das Blau an ihr, sie würgte am Blau, wehrte sich, schrie.
    Die Hände hoben sie hoch, und eine fremde Stimme murmelte leise und beruhigend in einer Sprache, die Shawn nicht verstand. Eine Tasse wurde an Shawns Lippen gepreßt. Sie öffnete den Mund zum Schrei, doch statt dessen trank sie. Die Brühe war warm und süß und wohlduftend, voller Gewürze. Manche von ihnen kannte Shawn sehr gut, aber andere waren ihr gänzlich unbekannt. Tee, dachte sie, und ihre Hände übernahmen die Tasse von den anderen Händen, noch während sie trank.
    Shawn befand sich in einem kleinen, schummrigen Zimmer und saß aufgerichtet auf einem Bett aus Kissen.
    Ihre Kleider lagen neben ihr, und die Luft war voll blauem Dunst von einem brennenden Stab. Eine Frau kniete neben Shawn, gekleidet in bunte Stoffstücke, die aus vielen Farben zusammengesetzt waren. Graue Augen betrachteten Shawn ruhig unter dem dicksten, wildesten Haarschopf hervor, den sie je gesehen hatte. »Du…?«
    sagte Shawn.
    Die Frau fuhr mit einer blassen, weichen Hand über Shawns Stirn. Dann sagte sie laut: »Carin.«
    Shawn nickte langsam und fragte sich, wer diese Frau wohl sein mochte und woher sie den Namen der Familie kannte.
    »Carinhall«, sagte die Frau, und ihre Augen schienen ein wenig belustigt und ein wenig traurig. »Lin und Eris und Caith. Ich erinnere mich an sie, kleines Mädchen.
    Beth, die Stimme Carins, wie hart sie war. Und Kaya und Dale und Shawn.«
    »Shawn? Ich bin Shawn. Das bin ich. Doch Creg ist die Stimme Carins…«
    Die Frau lächelte matt und fuhr fort, Shawns Stirn zu streicheln. Die Haut ihrer Hand war sehr weich. Shawn hatte noch nie etwas so Weiches gespürt. »Shawn ist meine Liebhaberin«, sagte die Frau. »In jedem zehnten Jahr. Bei der großen Versammlung.«
    Shawn blinzelte sie verwirrt an, und sie begann sich zu erinnern. Das Licht im Wald, der Vampir… »Wo bin ich?« fragte sie.
    »Du bist überall, wo du im Traum nicht hinzugelangen dachtest, kleine Carin«, sagte die Frau und lachte in sich hinein.
    Shawn bemerkte, daß die Zimmerwände wie dunkles Metall glänzten. »Das Gebilde«, platzte es aus ihr heraus,
    »das Gebilde, auf den Beinen, mit all den Blumen…«
    »Ja«, sagte die Frau.
    »Bist du… Wer bist du? Hast du das Licht gemacht? Ich war im Wald. Lane ist gestorben, ich hatte bald nichts mehr zu essen, und dann habe ich das Licht gesehen, ein blaues…«
    »Das war mein Licht, Carinkind, als ich vom Himmel herabstieg. Ich bin weit weg gewesen, ja, weit weg, in Ländern, von denen du noch nie hörtest, aber ich bin zurückgekommen.« Unvermittelt stand die Frau auf und wirbelte hierhin und dorthin, und das bunte Kleid, das sie trug, wallte und schimmerte, und sie war eingehüllt in blassen, blauen Rauch. »Ich bin die Hexe, vor der man dich in Carinhall warnt, Kind«, kreischte sie frohlockend, und sie wirbelte und wirbelte herum, bis sie endlich schwindelnd neben Shawns Bett zusammenbrach.
    Niemals hatte jemand Shawn vor einer Hexe gewarnt.
    So war sie eher verwirrt als ängstlich. »Du hast den Vampir getötet«, sagte sie. »Wie hast du…?«
    »Ich kann zaubern«, sagte die Frau. »Ich bin eine Zauberin, und ich kann zaubern und werde ewig leben.
    Und das wirst du auch, Carinkind, Shawn, sobald ich es dich gelehrt habe. Du kannst mit mir reisen, und ich werde dich alle Zaubereien lehren und dir Geschichten erzählen, und wir werden uns lieben. Du bist bereits meine Liebhaberin, weißt du, das bist du schon immer gewesen, bei den Ratsversammlungen. Shawn, Shawn.«
    Sie lächelte.
    »Nein«, sagte Shawn, »das war eine andere Person.«
    »Du bist müde, Kind. Der Vampir hat dich verletzt, und du hast deine Erinnerung verloren. Aber du wirst dich wieder erinnern können, das wirst du.« Die Frau stand auf und durchquerte das Zimmer. Mit den Fingerspitzen drückte sie den brennenden Stock aus und stellte die Musik leiser. Als sie mit dem Rücken zu Shawn stand, sah diese, daß ihr Haar fast bis auf die Hüften herabfiel und daß es nur aus Locken und Knoten bestand; wildes, ruheloses Haar, das wie Wellen auf einem fernen Meer herumwogte, wenn die Frau sich bewegte. Shawn hatte das Meer einmal gesehen, vor vielen Jahren, noch bevor der Tiefwinter einsetzte.
    Shawn erinnerte sich daran.
    Die Frau schwächte irgendwie das gedämpfte Licht ab und wandte sich in der Dunkelheit wieder Shawn zu.
    »Ruh dich jetzt aus. Mit Zauberei habe ich die Schmerzen von dir genommen, aber

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