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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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Reagieren. Auf einen Kampf unter gleichen Bedingungen war er nicht vorbereitet. Annelyn rammte ihm die Klinge in den Leib.
    Dann stieß er den Körper in den Luftschacht und hoffte, er möge bis in alle Ewigkeit hinunterfallen.
    In der Hohen Höhle war der Maskenball noch in vollem Gange, als Annelyn zu den Yaga-la-hai zurückkehrte. Verkleidete Männer und Frauen tanzten durch staubige Bibliotheken. Die Schatzkammern und Vergnügungsräume waren zum Feiern geöffnet. In der Höchsten Halle lag zwischen Tausenden von Fackeln Vermentor der Zweite. Die Kinder des Wurms tanzten um ihn herum und sangen Lieder über den Tod des Herrschers. Der Menschwurm hatte kein Gesicht mehr: Er war nun eins mit dem Weißen Wurm. Daneben standen, wie eine Woche zuvor, die Priesterchirurgen in weißen Kitteln, auf denen Skalpell und Theta abgebildet waren. Das Siebente Festmahl war soeben aufgetragen worden.
    Annelyn entdeckte Caralee, die golden leuchtende Caralee, die bronzenen Ritter und einige seiner ehemaligen Freunde. Aber die meisten lächelten nur und witzelten, als er unerwartet durch das Tor schritt.
    Manche erkannten ihn vielleicht nicht. Vor kurzem noch, während des Sonnenballs, hatte er in seinem herrlichen Gewand aus Seide und Spinnengrau geprunkt.

    Jetzt sah er schrecklich abgemagert und zerschunden aus.
    Die Kleider hingen ihm wie die faulen Lumpen eines Champignonbauern in Fetzen vom Körper. Die Gäste murrten über sein unmaskiertes Gesicht, da die Zeit zur Demaskierung noch nicht gekommen war.
    Bald hatten sie noch andere Gründe zum Murren.
    Annelyn, dieser fremde, veränderte Junge, stand regungslos in der Tür und ließ die Augen von einer Maske zur anderen springen. Dann ging er, ohne ein Wort zu reden, auf die große Festtafel zu, nahm eine eiserne Platte gefüllt mit weißem Graunfleisch und schleuderte sie quer durch den Raum. Einige lachten, andere waren weniger amüsiert und klaubten sich vereinzelte Fleischstückchen von den Schultern. Annelyn verließ den Raum.
    Obwohl er seinen Sinn für schöne Kleider und viel vom ehedem so geistreichen Witz verloren hatte, wurde Annelyn zu einer bekannten Figur unter den  Yaga-la-hai.
    Er redete endlos lange und eindringlich über vergessene Greueltaten und Sünden vergangener Zeitalter, malte düstere Bilder von Monsterwürmern, die in den Tiefen des Hauses heranwuchsen und eines Tages nach oben kämen, um alle zu verschlingen. Er riet den Kindern des Wurms, sich mit den Grauns zu paaren, statt sie zu fressen, damit ein neues Volk heranwüchse, das den schrecklichen Riesenwürmern gewachsen wäre.
    Während des langen Niedergangs des Hauses wurde nichts so sehr geschätzt wie das Neue, Ungewöhnliche.
    Obwohl Annelyn als grob und unmanierlich galt, ließ man sich gerne von seinen Geschichten und aufreizenden Respektlosigkeiten unterhalten. Das war auch der Grund dafür, warum er, zum Überdruß der bronzenen Ritter, am Leben bleiben durfte.

    Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Windgassen  

Bitterblumen

    Als er endlich gestorben war, stellte Shawn beschämt fest, daß sie ihn noch nicht einmal begraben konnte.
    Sie besaß keine geeigneten Grabwerkzeuge; nur ihre Hände, das Langmesser, das an der Hüfte festgebunden war, und ein kleineres Messer im Stiefel. Aber damit ließ sich hier gar nichts ausrichten. Unter der dünnen Schneedecke war der Boden hart wie Fels gefroren.
    Shawn war sechzehn, nach der Jahreszählung ihrer Familie, und der Boden war schon ihr halbes Leben lang gefroren gewesen. Die jetzige Jahreszeit hieß Tiefwinter, und es war kalt auf der Welt.
    Obwohl sie schon vorher wußte, wie sinnlos das Unterfangen war, versuchte Shawn zu graben. Sie suchte sich ein Fleckchen Erde aus, nur ein paar Meter von dem groben Schrägdach entfernt, das sie zu ihrer beider Schutz gebaut hatte. Shawn brach die dünne Schneekruste auf und schob die Stücke mit den Händen beiseite. Dann begann sie mit dem kleineren Messer auf der Erde herumzuhacken. Aber der Boden war härter als Stahl. Die Klinge zerbrach, und Shawn starrte sie hilflos an, wußte sie doch, wie wertvoll so ein Messer war, und wohlwissend, was Creg zu ihr sagen würde. Dann versuchte sie weinend mit den Händen die Erde aufzukratzen, bis ihre Finger schmerzten und die Tränen auf ihrer Gesichtsmaske gefroren. Es war nicht richtig von ihr, ihn ohne Beerdigung hier liegenzulassen; er war ihr Vater, Bruder und Liebhaber gewesen. Und er war immer nett zu ihr gewesen, und sie hatte ihn nie

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