Im Haus des Wurms
vielleicht kehren sie zurück. Ruf mich, wenn es soweit kommt. Ich kenne noch mehr Magie.«
Shawn fühlte sich schläfrig. »Ja«, murmelte sie ergeben. Aber als die Frau sich zum Gehen wandte, rief Shawn ihr nach. »Warte!« sagte sie. »Von welcher Familie bist du, Mutter? Sag mir, wie du heißt.«
Das gelbe Licht rahmte die Gestalt der stehenden Frau ein, eine Silhouette ohne Konturen. »Meine Familie ist sehr groß, Kind. Meine Schwestern sind Lilith und Marcyan und Erika Stormjones und Lamiya-Bailis und Deirdre d’Allerane. Kleronomas und Stephan Kobalt Nordstern und Tomo und Walberg waren meine Brüder und Väter. Unser Haus liegt hoch oben, noch über dem Eiswagen. Und mein Name, mein Name ist Morgan.«
Damit war sie verschwunden. Die Tür schloß sich hinter ihr, und Shawn war allein, um zu schlafen.
Morgan, dachte Shawn, als sie einschlief.
Morganmorganmorgan. Der Name trieb wie ein Rauchfaden durch ihre Träume.
Sie war wieder ein kleines Mädchen und beobachtete das Feuer im Herd von Carinhall, beobachtete, wie die Flammen an den dicken, schwarzen Holzstöcken leckten und sie plagten, roch den süßen Wohlgeruch von Distelholz, und ganz in der Nähe erzählte jemand eine Geschichte. Nicht etwa Jon, nein, dies hier war, bevor Jon Geschichtenerzähler geworden war, dies hier war lange davor. Die Erzählerin war Tesenya, die uralte Tesenya. Ihr Gesicht war voller Falten, und sie sprach mit ihrer müden Stimme, die doch voller Musik war, mit ihrer Wiegenliedstimme, und alle Kinder hörten ihr zu.
Ihre Geschichten waren anders gewesen als die von Jon.
Seine Geschichten handelten immer von Kämpfen, von Kriegen, von der Blutrache und von Monstern. Sie waren bis an den Rand angefüllt mit Blut, Messern und leidenschaftlichen Schwüren, geschworen am Totenbett des Vaters. Tesenyas Geschichten verliefen ruhiger. Sie erzählte von einer Reisegruppe, sechs Personen aus der Familie Alynne, die sich eines Jahres in der Frostjahreszeit verirrt hatten. Durch Zufall gerieten sie in eine große Halle, ganz aus Metall gebaut. Und die dortige Familie begrüßte die Gäste mit einem großen Fest. So aßen und tranken die Reisenden, und als sie sich gerade die Lippen abwischten und aufbrechen wollten, wurde ein weiteres Festmahl aufgefahren, und so ging es in einem fort. Die Alynnes blieben immer länger, denn bei jedem Gang wurde das Essen leckerer und köstlicher als alles, was sie je zuvor zu sich genommen hatten. Je mehr sie von den Speisen aßen, desto hungriger wurden sie.
Mittlerweile war es draußen vor der Halle Tiefwinter geworden. Schließlich, als es viele Jahre später wieder taute, machten sich andere Mitglieder der Familie Alynne auf den Weg, die Wanderer zu suchen. Man fand sie tot im Wald. Sie hatten sich ihrer guten, warmen Felle entledigt und trugen statt dessen dünne Tücher. Ihre Messer waren vom Rost zerfressen, und jeder einzelne von ihnen war verhungert. Denn der Name dieses Metallhauses war Morganhall, erklärte Tesenya den Kindern, und die Leute, die dort lebten, wurden die Lügner-Familie genannt, deren Mahlzeiten hohl sind und aus Träumen und Luft bestehen.
Shawn erwachte, nackt und zitternd.
Ihre Kleider lagen noch immer in einem Haufen neben dem Bett. Rasch zog sie sich an, zuerst das Unterzeug, dann das schwere Hemd aus Schwarzwolle, darüber die Lederstücke, die Hosen, den Gürtel und das Wams, dann ihren Fellmantel mit der Kapuze und schließlich ihre Capes, ihr eigenes aus Kinderstoff und Lanes Umhang.
Ganz zum Schluß zog sie die Gesichtsmaske über; sie zerrte das enge Leder über das Gesicht und band die Schnüre unter dem Kinn fest. Jetzt war sie sowohl vor dem Tiefwinter als auch vor den Berührungen eines Fremden geschützt. Shawn fand ihre Waffen nebst den Stiefeln achtlos in eine Ecke geworfen. Als Lanes Schwert in ihrer Hand lag und das Langmesser wieder in seiner gewohnten Scheide steckte, fühlte Shawn sich komplett. Sie stapfte nach draußen mit dem Ziel, ihre Skier und einen Ausgang zu finden.
Morgan erwartete sie mit einem hellen, spröden Lachen in einem Zimmer aus Glas und glänzendem, silbrigem Metall. Sie stand vor dem größten Fenster, das Shawn je gesehen hatte: eine Scheibe aus reinem, sauberem Glas, höher als ein Mensch, breiter als der große Herd in Carinhall und makelloser als die Spiegel der Familie Terhis: und die war für ihre Glasbläser und Linsenma-cher berühmt. Hinter dem Glas war es Mittag, der kühle, blaue Mittag des Tiefwinters. Shawn
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