Im Haus meines Feindes
daà er keinen Tag länger warten konnte. Für alle meine Freundinnen ist das die absolut romantischste Geschichte, die sie je gehört haben. Wie er dein Vormund geworden ist, deine Ausbildung hier im Internat bezahlt hat und dich anschlieÃend sofort geheiratet hat.«
Auch Remy hatte das damals für romantisch gehalten. Pinkie war ihr wie ein Ritter in schimmernder Rüstung erschienen, der Flarra und sie vor Armut und sicherem Untergang gerettet hatte. Aber das schien ein Leben lang zurückzuliegen. Genauer gesagt: ihr Leben lang.
»Eines Tages wird sich auch ein Mann schrecklich in dich verlieben«, versicherte Remy ihr.
Von den beiden Schwestern war Flarra die Hübschere. Ihre lebhaften Augen leuchteten frühlingsgrün. Ihr Haar war schwarz und glänzend wie Remys, aber Flarras üppige Naturlocken lieÃen sich kaum bändigen. Da sie verschiedene Väter hatten, die sie beide nicht kannten, und die Familie ihrer Mutter nichts von ihr wissen wollte, konnte niemand genau sagen, von wem sie die Locken hatte.
Flarras junger Körper war schlank, biegsam und sportlich, aber an den richtigen Stellen sanft gerundet. Die strenggeschnittene Schuluniform konnte ihre weiblichen Formen nicht ganz tarnen. Deshalb schauderte es Remy bei der Vorstellung, wie ihre unschuldige Schwester spätnachts im French Quarter unterwegs war, wo sie rüpelhaften Touristen, betrunkenen Studenten und unzähligen Schurken mit perversen Absichten in die Hände fallen konnte.
»Wie soll sich jemand in mich verlieben, wenn ich hier eingesperrt bin?« jammerte Flarra, so daà Remy sie wieder trösten muÃte.
»Nur noch eineinhalb Jahre, dann hast du deinen Schulabschluà und gehst aufs College, wo du viele neue Freundschaften schlieÃen wirst.«
»Remy â¦Â« Flarra lieà sich von ihrem Sessel gleiten und kniete sich vor ihrer Schwester auf den Boden. »Hier gehe ich noch ein. Ich habe in diesen Mauern gelebt, solange ich zurückdenken kann. Ich will neue Orte erleben. Ich will neue und interessante Menschen kennenlernen. Ich will Männer kennenlernen. Ich bin noch nie geküÃt worden.«
»Du hast mir erzählt, daà dein Tanzpartner dich beim Weihnachtsball geküÃt hat.«
»Das?« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Das zählt doch nicht! Er hat mich gegrapscht und seinen Mund auf meinen gedrückt, als die Nonnen nicht hergesehen haben. Plump und primitiv. Er war ganz nervös und verschwitzt. Das hat mich nicht angetörnt, sondern nur wütend gemacht.«
Sie rutschte etwas näher und senkte ihre Stimme zu einem drängenden Flüstern. »Ich rede von einem richtigen KuÃ, Remy. Ich will richtig ausgehen, ohne daà Nonnen jede meiner Bewegungen beobachten. Ich will â¦Â«
»Eine Romanze erleben.«
»Nun, was ist daran schlecht?« Sie griff nach Remys Händen und drückte sie. »Bitte, bitte, bitte, laà mich bei dir und Pinkie leben und auf eine Schule für Jungen und Mädchen gehen. Wenigstens in meinem letzten Schuljahr.«
Flarra gierte danach, endlich das richtige Leben kennenzulernen. Sie war neugierig auf Männer, weil ihre Erfahrungen auf Pinkie beschränkt waren, der sie wie ein Vater behandelte  â oder zumindest wie ein liebevoller Onkel. Wie bei allen Jugendlichen ihres Alters befand sich ihr Hormonhaushalt in wildem Aufruhr, was noch verschärft wurde durch Flarras angeborene Lebenslust und ihre rege Fantasie, natürliche Ãberschwenglichkeit und unbezähmbare Neugier.
Remy konnte die Unruhe ihrer Schwester zwar verstehen,
aber nicht nachvollziehen. Sie war als Teenager ins Internat aufgenommen worden, aber es war ihr nie als eine Art Gefängnis erschienen. Sie hatte hier eine Zuflucht gefunden. Für Remy war die Blessed Heart Academy ein sauberer, ruhiger und erholsamer Zufluchtsort gewesen.
Hinter den mit Efeu bewachsenen Schulmauern hatte sie ein bis dahin unvorstellbares Gefühl von Sicherheit und heiterer Zufriedenheit empfunden. Musik beschränkte sich auf die Kirchenlieder, die bei den Morgen- und Abendandachten gesungen wurden, denn hier gab es keine Radios, die Tag und Nacht Schlager plärrten. Keine finsteren Gestalten näherten sich der Nische, in der sie schlief. Es gab keine lüsternen Blicke, die man fürchten und denen man ausweichen muÃte, keine Tobsuchtsanfälle im Drogenrausch, keine zotigen Redensarten, keinen
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