Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
erforschen. Sie müssen bedenken, dass dieses paradiesische Land gerade erst im Begriff war, von unseren Landsleuten erkundet zu werden. Nun, Herr Finsch legte also immer wieder am Flussufer an und besuchte verschiedene Eingeborenenstämme. Die meisten nahmen ihn freundlich auf, bewirteten ihn und seine Reisegefährten, zeigten ihnen ihre Dörfer und tauschten Bandeisen, Stoffe und Perlen gegen ihre Kunstgegenstände.«
Isabel nickte. Von Finschs Buch »Samoafahrten«, das vor kurzem erschienen war, hatte sie schon gehört.
»Eines Tages gelangte Herr Finsch zu einem neuen Stamm. Dort lief das übliche Procedere ab: den Häuptling begrüßen und Geschenke verteilen, bis man die weißen Männer in das Dorf einlud. Doch dann glaubte Finsch seinen Ohren nicht zu trauen, als neben all den unverständlichen Brocken der fremden Stammessprache plötzlich ein paar stockende deutsche Worte an ihn gerichtet wurden.«
»Deutsche Worte?«, wiederholte Isabel ungläubig.
Bruder Lorenz nickte. »Ja, Herr Finsch war mindestens genauso überrascht wie Sie jetzt. Der Junge, der ihn angesprochen hatte, mochte um die fünfzehn Lenze zählen. Finsch hatte nicht sofort Gelegenheit, diesem Rätsel nachzugehen, da der Häuptling die Forscher sofort mit Beschlag belegte. Erst am Abend, bei einem großen Festessen zu Ehren der weißen Besucher, gelang es ihm, etwas Licht in das Dunkel zu bringen und mit dem Jungen, der sich Asemou nannte, zu reden. Anfangs musste dieser immer wieder nach Worten suchen, doch sein Deutsch wurde schnell besser, als erinnerte er sich wieder daran. Er erzählte, vor einigen Jahren hätten ihn Männer dieses Stammes aus dem Wasser gezogen, halbtot in einem Kanu treibend. Aber wie er dorthin geraten sei oder woher er käme, daran habe er keine Erinnerung. Alles vor diesem Tag sei wie aus seinem Gedächtnis gelöscht. Finsch wollte es erst nicht glauben, aber die Dorfbewohner bestätigten es.«
Isabel sah ihn bestürzt an. Das war ja noch unglaublicher als die Geschichte mit dem Findelkind. »Und dann hat Herr Finsch ihn mitgenommen?«
Bruder Lorenz nickte. »Der Junge machte sich bald unentbehrlich. Da er sowohl Deutsch als auch die Stammessprache beherrschte, kam es zu einem regen Austausch von Gütern – Finsch erhielt fast mehr, als er auf der Samoa unterbringen konnte. Und als er nach einigen Tagen die Rückreise antreten wollte, bat der Junge, ihn mitzunehmen. Die Wege des Herrn sind manchmal unergründlich. Finsch war überzeugt davon, dass hier Gottes Werk geschah, und so überzeugte er die Zieheltern des Jungen mit vielen Geschenken, ihn gehen zu lassen.« Bruder Lorenz zupfte eine Gräte von seinem Hemd. »Als Herr Finsch in Simbang ankam, wohnten er und seine Besatzung für ein paar Tage bei uns. Wir sprachen viel, natürlich auch über den Jungen. Herr Finsch war sich nicht sicher, ob er ihn mitnehmen sollte nach Deutschland, denn auch wenn er Deutsch sprach, so war er doch offensichtlich ein in diesem Land geborener Mischling, der Nachkomme eines Deutschen und einer einheimischen Frau. Ich schlug ihm schließlich vor, den Jungen hier zu lassen. Schon auf der Flussfahrt hatte er seinen Stammesnamen abgelegt und nannte sich jetzt Noah, nach unserem biblischen Patriarchen. Diesen Namen hatte ihm Finsch gegeben, weil der Junge zwei Geckos mit auf die Samoa gebracht hatte. Außerdem offenbarte er großes Sprachtalent: Schon in den ersten Tagen in Simbang gelang es ihm, sich mit den hier lebenden Jabim zu verständigen – schneller, als wir es in all den Wochen, die wir schon hier lebten, vermocht hatten. Inzwischen spricht er die Sprache fließend.«
»Und bis jetzt weiß niemand, woher er kommt? Und warum er Deutsch spricht?«
»So ist es. Dieses Rätsel hat sich nie geklärt.« Bruder Lorenz sah auf die Lichtung, wo sich immer mehr Dorfbewohner versammelten. »Ich könnte noch stundenlang über all das reden, aber Sie sehen es ja selbst – man verlangt nach mir.«
*
Die alte Warika hielt still, als Isabel den Verband aus Palmblättern vorsichtig ablöste. Noah sah, dass Isabels Hände dabei leicht zitterten. Dennoch – obwohl sie bezweifelt hatte, von großem Nutzen zu sein, schlug sie sich gut. Besser als er selbst; die blutende Wunde, die sie jetzt freilegte, ließ in seinem Magen ein flaues Gefühl entstehen.
»Wie ist das passiert?«, fragte Isabel jetzt, und Noah gab die Frage auf Jabim weiter.
Leise, mit gesenktem Kopf, schilderte Warika, wie sie sich an einem dornigen Strauch
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