Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
schöne deutsche Muttersprache beibringen können, aber dazu fehlt es uns an Zeit und ihnen an Geduld. Nur die Knaben, die als Hausboy arbeiten, sprechen ein wenig Deutsch. So wie Sabiam. Wie oft habe ich mir gewünscht, der Tag habe mehr Stunden. Dann hätten wir mehr Zeit für die Arbeit in der Schule und für die Mission, für das Sprachstudium und den Gemüsegarten.«
Isabel zögerte. Einen besseren Moment, um ihre Bitte vorzutragen, würde sie kaum finden. Sie räusperte sich. »Verehrte Brüder«, sagte sie und wurde rot, als sie merkte, dass sich ihr alle drei bärtigen Gesichter zuwandten. »Sie haben mich hier so freundlich aufgenommen, und ich möchte Ihnen gerne einen kleinen Teil dieser Freundlichkeit zurückgeben. Meinen Sie, ich … ich könnte mich irgendwie nützlich machen, solange ich hier bin?«
Bruder Schwarz sah etwas sauertöpfisch drein. »Ich wüsste nicht, wie –«
»Möglicherweise«, fiel ihm Bruder Laumer ins Wort. »Wenn ich mich recht entsinne, dann sprach unser lieber heimgegangener Bruder Felby davon, dass Sie das Harmonium spielen können.«
»Ja, das kann ich.« Zumindest etwas, das sie beherrschte. Viele der Stunden, die ihre Geschwister mit Fangen, Verstecken oder Eislaufen verbracht hatten, hatte sie an den Tasten gesessen und geübt.
»Nun, wir haben hier in der Mission ein kleines tragbares Harmonium. Vielleicht möchten Sie uns beim nächsten Gottesdienst darauf begleiten?«
»Herzlich gern.«
Bruder Lorenz faltete seine Hände und zwinkerte sie über seinem Bart an. »Und wenn Sie schon fragen, Schwester Maritz – vielleicht hätten Sie Lust, uns bei der Sprechstunde zu helfen, die wir gleich abhalten werden? Wir kümmern uns nämlich nicht nur um das seelische Wohl unserer Schützlinge, sondern auch um ihren Leib, so gut wir es eben vermögen.«
»Ich fürchte, ich wäre Ihnen dabei keine große Hilfe«, wehrte Isabel ab. »Ich bin keine Krankenschwester. In Neuendettelsau habe ich nur den einfachen Spitalkurs gemacht.«
In dem mehrwöchigen Kurs für angehende Missionsfrauen waren neben Krankenpflege auch einfache Behandlungen gelehrt worden, denn in Kaiser-Wilhelms-Land gab es kaum Ärzte.
»Das ist doch wunderbar – mehr hatte ich gar nicht erwartet. Ich bin sicher, Schwester Maritz, Sie wären eine hervorragende Krankenschwester. Die eingeborenen Frauen und Mädchen sind uns weißen Männern gegenüber sehr zurückhaltend. Bei einer Frau werden sie womöglich etwas aufgeschlossener sein.«
»Nun, wenn Sie wirklich meinen …«, stimmte Isabel zögernd zu. »Und – wie verständige ich mich mit den Frauen?«
»Noah wird für Sie übersetzen. Ach, daran habe ich noch gar nicht gedacht – Sie müssen ihn ja noch kennenlernen.« Er blickte suchend um sich. »Maximilian, Theodor, hat einer von euch heute schon Noah gesehen?«
»Ich glaube, das ist nicht nötig«, sagte Isabel, bevor die anderen antworten konnten. »Wir sind uns heute Morgen bereits begegnet.«
»Ach ja? Ich hoffe, er war …« Bruder Lorenz räusperte sich. »Ich meine, ich hoffe, er hat sich anständig benommen?«
Sie biss sich auf die Lippen und nickte. Ihr wurde unangenehm heiß, als sie an den heutigen Morgen mit seinem peinlichen Missverständnis dachte, als sie den jungen Mann für einen Dieb gehalten hatte. Und an seine freizügige Bekleidung. Dennoch plagte sie die Neugier, und nach kurzem Zögern stellte sie die Frage, die ihr seit dem Morgen auf den Nägeln brannte: Wie es sich mit Noahs Behauptung verhielt, angeblich hier aufgewachsen zu sein.
Bruder Laumer schmunzelte. »Da hat der gute Noah Ihnen einen Bären aufgebunden, Schwester Maritz. Sie dürfen nicht alles glauben, was er erzählt.«
Hatte sie es doch geahnt – es gab sicher eine einfache Erklärung. »Woher kommt er? Und wieso spricht er so gut Deutsch?«
»Das, Schwester Maritz, ist uns allen ein Rätsel«, sagte Bruder Lorenz achselzuckend. »Ich sehe, nun sind Sie vollkommen verwirrt, und so kann ich Sie natürlich nicht stehenlassen. Nun, ein bisschen Zeit haben wir noch, bevor unsere nächsten Pflichten rufen. Sagt Ihnen der Name Otto Finsch etwas?«
»Ja, natürlich. Ein deutscher Forschungsreisender. Nach ihm ist Finschhafen benannt.«
»So ist es. Und außerdem hat er Noah hierhergebracht. Vor gut fünf Jahren.«
Isabel sah ihn fragend an.
»Herr Finsch war damals mit dem Dampfschiff Samoa auf dem großen Kaiserin-Augusta-Fluss unterwegs, um die einheimische Bevölkerung, die Flora und die Fauna zu
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