Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
Deutschen auftauchten, erhoben sie sich und sahen ihnen neugierig entgegen.
Isabel fühlte sich plötzlich seltsam schwach. »Noah?«, rief sie halblaut hinauf zu der fensterlosen Pfahlhütte. Sie hatte Mühe, ihre Stimme zu kontrollieren. Womöglich sprach sie ja mit einem Mörder. »Hier ist Isabel Maritz. Sabiam sagt, Sie hätten Zahnschmerzen. Stimmt das?«
Sie hörte ein Stöhnen, das Zustimmung bedeuten mochte, und ein leises metallisches Klirren, wahrscheinlich von den Handschellen.
»Sie müssen zugeben«, sagte sie, »das kommt doch etwas sehr plötzlich.«
»Nein«, gab Noah dumpf zurück. »Nicht plötzlich. Es tut schon seit Tagen weh. Aber jetzt wird es immer schlimmer.«
Seit Tagen? Das würde zumindest erklären, wieso er gestern Abend so schlecht gelaunt gewesen war und so wenig gegessen hatte. Und auch, wieso er sich betrunken hatte – Alkohol dämpfte den Schmerz, hatte sie gehört. Allerdings war es keine Erklärung für das, was man ihm vorwarf.
»Fräulein … Maritz?« Er klang wie jemand, der mit Mühe große Schmerzen unterdrückte. »Könnten Sie vielleicht … Maximilian – Pater Schwarz – holen?«
Sie sah Berthold fragend an. Wenn Noah nach einem der Brüder fragte, war er wohl wirklich krank. Auch Berthold war anzusehen, dass er ähnliche Überlegungen anstellte.
»Bruder Schwarz liegt mit einem Fieberanfall darnieder«, sagte sie dann laut.
Noah stöhnte auf. »Na wunderbar.«
»Ist es denn so schlimm? Hat es nicht Zeit, bis Bruder Lorenz zurückkommt?«
»Denken Sie, ich spiele Ihnen hier etwas vor?«, kam es gereizt zurück.
Sie schwieg. Dachte sie das wirklich? »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, fragte sie dann.
»Ich glaube kaum, dass Sie Zähne ziehen können.« Sie vernahm ein Knarren, als er offenbar sein Gewicht verlagerte.
»Doch, das kann ich«, erwiderte sie fest – und verwünschte ihre Antwort im selben Moment. Sie konnte es zumindest theoretisch. Praktisch angewendet hatte sie ihre Kenntnisse noch nie.
»Wirklich?« In seiner Stimme klang ein Ton von Hoffnung mit.
»Ja. Und … Sie lügen mich auch ganz sicher nicht an?«
»Nein«, kam seine Antwort, »das tue ich nicht.«
»Nun ja«, sagte sie zögernd. »Ich kann es mir ja zumindest einmal ansehen.«
»Isabel!« Berthold war einen Schritt näher zu ihr getreten und sprach leise auf sie ein. »Meinen Sie nicht, dass das ein Trick ist?«
»Nein, ich glaube ihm, dass er Schmerzen hat. Und auch ein Verdächtiger hat das Recht auf medizinische Behandlung. Aber wenn es Sie beruhigt, dann werde ich ganz sichergehen. Noah?«, rief sie dann nach oben. »Geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie nicht versuchen werden zu fliehen?«
»Mit gefesselten Händen?«, kam gleich darauf die Antwort, gefolgt von einem leisen Ächzen. »Keine Sorge, Fräulein Maritz, ich will nur diesen verdammten Zahn loswerden, mehr nicht.«
»Ihr Wort«, beharrte Isabel.
Ein entnervtes Seufzen. »Also gut, ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich nicht versuchen werde zu fliehen.«
»Und nachher werden Sie anstandslos hierher zurückgehen und sich wieder einsperren lassen?«
»Auch das.«
Isabel sah zu Berthold. »Sie haben es gehört.«
Er war sichtlich unschlüssig. »Gut«, sagte er schließlich. »Wie Sie meinen. Aber dann hier, wo ich alles gut überblicken kann. Und Sie wollen ihm wirklich einen Zahn ziehen?« Er hörte sich an, als fände er diese Vorstellung nicht sonderlich angenehm.
Sie lächelte etwas schief. »Von wollen kann keine Rede sein. Aber irgendjemand muss es ja tun – sofern es denn nötig ist.«
»Liebste Isabel, Sie beweisen immer mehr ungeahnte Fähigkeiten.«
Die Vorbereitungen waren schnell erledigt. Isabel schickte Sabiam, um die Medizintasche aus dem Haus der Brüder zu holen, und einen anderen Jungen, der zwei Stühle herbeibringen sollte. Als die beiden mit den gewünschten Sachen zurückkamen, folgte ihnen eine ganze Meute dunkelbrauner, halbnackter Jugendlicher – die restlichen Kostschüler, die von dem zu erwartenden Spektakel erfahren hatten und sich jetzt kichernd und plappernd um die besten Plätze unter dem Schuppen stritten.
Berthold steckte seinen Revolver unter die Achsel seines halben linken Arms und fischte umständlich einen Schlüssel aus seiner Westentasche. Dann winkte er Sabiam heran.
»Du da, kannst du damit umgehen? Ja? Dann schließ die Tür auf, löse den Knoten und bring Noah her.«
Er gab Sabiam den Schlüssel und zog den Revolver wieder unter seiner Achsel hervor. »Ich
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