Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
schicke jetzt einen Jungen hoch«, rief er nach oben. »Und ich stehe hier mit gezogener Waffe. Also keine Dummheiten!«
Sabiam kletterte behände wie ein Äffchen die Leiter hinauf, öffnete mit einiger Mühe das Schloss und verschwand im Schuppen. Isabel hörte Noah und den Jungen auf Jabim miteinander reden. Als bald darauf Noah in der Tür erschien, stolperte ihr Herz kurz und angstvoll. Fürchtete sie sich vor ihm?
Für einen Moment kniff er die Augen vor der gleißenden Sonne zusammen, dann drehte er sich um und kletterte rückwärts und ein wenig steif vor Sabiam die Leiter herunter. Er trug noch immer die Kleidung von gestern Abend – Hemd und Hose aus ungefärbtem Leinen, die verschwitzt und nicht mehr ganz sauber waren, aber keine Blutflecken aufwiesen, wie Isabel rasch registrierte, außerdem das blaue Tuch. Ein Paar rostiger Handschellen mit einer kurzen Kette hielt seine Handgelenke zusammen, seine Hände waren zu Fäusten geballt.
Als er die Schüler erblickte, die sich unter dem Schuppen versammelt hatten, zog er eine Grimasse. »Können wir nicht woandershin gehen, wo ich nicht der allgemeinen Belustigung diene?«
Berthold, den Revolver im Anschlag, trat zwei Schritte näher. Dicke Schweißtropfen liefen ihm über Stirn und Schläfe, aber er wischte sie nicht fort. »Damit du dich womöglich unbemerkt ins Gebüsch schlagen kannst? Nein, nein, Freundchen, wir bleiben schön hier, wo alle dich sehen können.«
Noah erwiderte nichts, aber ihm war sicher auch aufgefallen, dass Berthold ihn plötzlich duzte.
Es war früher Nachmittag und sehr heiß. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel, keine noch so leichte Brise fuhr durch die Palmen und Schraubenbäume. Zikadengezirpe war zu hören und das Geplapper der Kostschüler, die an den Pfeilern des Vorratsschuppens lehnten, im Gras saßen oder betelnusskauend herumlungerten.
Isabel wies auf einen der beiden Bambusstühle, die vor dem Schuppen in der Sonne standen, und Noah setzte sich. Er roch nach Schweiß und Alkohol, wenn auch weniger stark, als Isabel erwartet hatte, und sein bronzefarbener Teint sah aus wie von einem Grauschleier überzogen – es ging ihm tatsächlich nicht gut.
Ob er diesen schrecklichen Mord wirklich begangen habe, wollte sie fragen, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen.
»Welcher ist es?«, fragte sie stattdessen, in einem Ton, der sachlich klingen solle, der aber eher verzagt geriet.
Noah deutete auf seinen linken Unterkiefer. »Der vorletzte.«
Auch das noch – ein Backenzahn. Sie strich sich verstohlen die feuchten Handflächen an ihrem Rock ab und griff nach einer metallenen Sonde.
Er hatte prachtvolle Zähne; groß, weiß und auf den ersten Blick allesamt gesund und ohne Makel. Und auch auf den zweiten Blick.
»Unten links? Der vorletzte?«, vergewisserte sie sich, und er stieß einen leisen Laut der Zustimmung aus.
Der fragliche Zahn sah genauso gesund wie die anderen aus.
»Der hier?« Sie klopfte behutsam mit dem Griff der Sonde darauf. Noah zuckte zusammen und stöhnte auf.
Ein paar der Kostschüler lachten.
»Wer noch einmal lacht, ist als Nächster dran!«, hörte sie Berthold drohen. Sie bezweifelte zwar, dass die Kinder ihn verstanden hatten, aber danach lachte niemand mehr.
Isabel war ratlos. »Sind Sie wirklich sicher? Der Zahn macht einen vollkommen gesunden Eindruck.«
Noah schloss den Mund und sah sie mit einem schmerzerfüllten Ausdruck an. »Mir ist egal, was er für einen Eindruck macht, ich weiß nur, dass er höllisch weh tut.«
»Nun ja, möglicherweise ist die Wurzel entzündet, oder der –«
»Können wir es nicht endlich hinter uns bringen?«
»Das … könnte schwierig werden. Wollen Sie nicht doch lieber warten, bis einer der Missionsbrüder …«
Er schüttelte den Kopf. »Tun Sie es einfach – bitte.«
Sie blickte zu Berthold, der mit dem Revolver in der Hand ein paar Schritte entfernt stand und aussah, als wäre ihm nicht ganz wohl.
»Also gut«, murmelte sie. Sie begann, in der Medizintasche nach einem passenden Instrument zu suchen und beförderte schließlich eine kleine Zange ans Tageslicht.
»Damit kommen Sie nicht weit«, wandte Noah ein. »Nehmen Sie die größte, die Sie haben.«
Isabel seufzte und suchte weiter, bis sie fündig wurde. Ihre Finger fühlten sich glitschig auf den metallenen Griffen an. Sie schien alles vergessen zu haben, was sie einmal gelernt hatte. Wenn sie bloß noch wüsste, wie sie die Zange ansetzen musste …
Herr ,
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