Im Herzen der Wildnis - Roman
die Glocke zum Abendessen geläutet wurde, hatte ein leichtes Schneetreiben eingesetzt. Colin, Jake und Josh verkrochen sich nach dem Essen in ihre Kajüte. Josh teilte sich das Bett mit Jake, während Colin es sich mit einem Stapel Schwimmwesten und Decken auf dem Boden bequem machte. Am späten Nachmittag begegnete die Northern Lights einem Dampfer, der ihnen flussaufwärts entgegenkam. Beide Schiffe gingen längsseits, eine Gangway wurde hinübergeschoben, und etliche Männer wechselten für ein gemütliches Schwätzchen das Schiff. Die Polar Star , die der Brandon Corporation gehörte, hatte außer den Wintervorräten für Dawson nur fünf Kühe und eine Hand voll Passagiere an Bord, die noch vor dem Wintereinbruch den Klondike erreichen wollten. Die beiden deutschen Ladys, Miss Katharina und Miss Anna, waren sofort von einer Horde Gentlemen umlagert – die wenigen Frauen, die sich in die Wildnis Alaskas wagten, wurden sehr zuvorkommend behandelt. Die beiden smarten Ladys machten sich einen Spaß daraus, die Goldgräber vom Yukon zu foppen. Ja, sicher, auch im Rhein gäbe es Gold. Hatten die Gentlemen denn noch nie vom Rheingold gehört? Josh, der die Oper von Richard Wagner über das Gold der Nibelungen kannte, prustete los und lachte, bis er Tränen in den Augen hatte.
Die Glocke zum Abendessen war das Signal zum Aufbruch. Die Tampen, die die beiden Schiffe verbanden, wurden losgemacht, die Holzfeuer unter den Dampfkesseln wurden geschürt, und weiter ging’s! Während des Essens tobte ein Gewittersturm mit heftigen Windböen und einem prasselnden Regenguss, der nach einigen Stunden allmählich in Eisregen überging.
Drei Tage Schneetreiben! Dichter Nebel lag über dem Fluss, und die kalte Luft roch nach dem Rauch, der aus dem Schornstein quoll. Josh humpelte oft an Deck, um bei seinen Hunden zu sein, während sich Colin meist im Speisesaal herumtrieb, um zu pokern und den Diggers ihr Gold abzunehmen. Nach drei Tagen hatte er schon ein Säckchen voll Goldstaub im Wert von etwas mehr als tausend Dollar gewonnen. Jake lag unterdessen in ihrer Kabine auf dem Bett und las im National Geographic . Shannons Tigerjagd in Indien faszinierte ihn. Er war enttäuscht, als Colin ihm sagte, dass sie mittlerweile wohl mit Rob verheiratet war. Jake zuckte mit den Schultern. »Sag mir Bescheid, wenn sie sich wieder scheiden lässt …«
Der Nebel hob sich allmählich, und es wurde wieder wärmer. Die Sonnenstrahlen setzten die Wälder förmlich in Flammen und enthüllten die feurigen Farben des Indian Summer in seiner ganzen Pracht. Die Fahrt verlief ohne Halt, bis sie ein verlassenes Holzfällercamp entdeckten. Der Kapitän hatte hier Holz aufnehmen wollen, doch weit und breit war kein Holzstapel in Sicht. Das Nebelhorn dröhnte eine halbe Stunde lang, doch niemand erschien. Also fuhren sie weiter. Als auch das nächste Camp verlassen war, legte der Kapitän an, und die Passagiere gingen an Land, um Holz zu schlagen, damit die Fahrt weitergehen konnte, bevor der Yukon zufror.
An dieser Stelle, nahe dem Indianercamp Koyokuk, bog der Yukon in einer engen Kehre nach Süden ab. Als das Schiff am nächsten Morgen Nulato passierte, kehrten sie in die Zivilisation zurück, denn vom Dampfer aus konnten sie am Ufer die Telegrafenleitung sehen, die die US Army nach dem Kauf Alaskas errichtet hatte.
Während des Nachmittags hockte Josh in seinem Faltstuhl an Deck, spielte Ball mit den Huskys und lauschte dem Grammofon im Speisesaal. Irgendjemand hatte eine Johann-Strauss-Platte hervorgekramt und legte An der schönen blauen Donau auf. Die Huskys spitzten die Ohren, als die ersten Klänge die Niedergänge heraufwehten. Während der beschwingte Walzer immer schneller wurde, flitzten sie fröhlich kläffend über das Deck, um den Ball zu fangen, und rannten die Passagiere über den Haufen, die die Aussicht auf den Fluss genießen wollten, der immer breiter wurde und sich in mehrere Nebenarme verzweigte. Der Yukon glich einem geflochtenen Zopf, dessen Stränge sich durch das Land schlängelten, als handele es sich gar nicht um einen Fluss, sondern um ein ganzes System von Zuflüssen und Verzweigungen.
Wieder trafen sie einen Dampfer und gingen längsseits. Colin schwatzte einem Passagier einen San Francisco Chronicle ab, den die drei Freunde in den nächsten Tagen von der ersten bis zur letzten Seite lasen, bevor sie ihn in Streifen zerrissen. Die Zeitung war von Ende Juli, also fünf Wochen alt. Im Gesellschaftsteil entdeckte Colin
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