Im Herzen der Wildnis - Roman
redete, während sie ihren Bauch streichelte, rührte er sich wieder. Sie hatte sich für den Namen Ronan entschieden. Einen Mädchennamen hatte sie gar nicht erst ausgesucht, weil sie fest daran glaubte, dass es ein Junge würde. Rob war einverstanden: Aus unserem Kind , wie er den Kleinen genannt hatte, war schon vor Wochen Mr Ronan Conroy geworden.
Tom stellte sich oft vor, wie der kleine Ronan sich lachend in seine Arme warf, dieser kleine Junge, der wusste, wie sehr sein Großvater ihn liebte. Aber dann folgte immer die Ernüchterung: Er würde es nicht mehr erleben. Er würde Ronan vielleicht nie im Arm halten. Und das stimmte ihn sehr traurig.
»Tom?« Shannon legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Schon gut«, winkte er ab. Er besann sich. »Wie sind die Wahlen ausgegangen?«
»Na, was glaubst du?« Sie lächelte verschmitzt, und ihre Augen leuchteten. »Der kämpferische irische Stolz hat sich durchgesetzt! Eoghan ist seit heute Senator von Kalifornien. Und Gwyn ist die glücklichste Frau der Welt.«
»Herzlichen Glückwunsch! Ich freue mich für ihn.«
»Ich sag’s ihm«, versprach sie sanft. »Die Vogu e hat Gwyn auf die Liste der bestgekleideten Ladys Amerikas gesetzt.«
»Bestimmt auf Rang zwei.« Tom lächelte. »Nach dir.«
Er hörte selbst die abgrundtiefe Müdigkeit in seiner Stimme. Keuchend rang er nach Atem, aber Shannon ließ sich nichts anmerken, obwohl sie zu ahnen schien, dass das Gespräch mit Alistair ihn sehr belastet hatte: Der Tumor war noch weiter gewachsen und hatte sich im ganzen Körper ausgebreitet. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Vier Wochen, vielleicht fünf. Alistair wusste, welche Macht der Krebs hatte und wie unbarmherzig er wütete. Er hatte ihm nahegelegt, ins Krankenhaus zu gehen, doch Tom hatte abgelehnt. Er sah seine letzten Wochen vor sich. Die Leiden, die ihm nicht erspart bleiben würden. Die Schmerzen. Die Leere. Er wollte nicht allein sein. Allein mit seinen Gedanken und Erinnerungen. Alistair mochte recht haben, dass alle Sorgen und Ängste im Angesicht des Todes bedeutungslos wurden. Dass ein Sonnenuntergang oder das Rauschen des Meeres zu einem intensiven Erlebnis wurde. Dass Liebe und Zärtlichkeit wichtiger wurden denn je.
Aber wie soll ich das, was mir in meinem Leben noch etwas bedeutet, in einem Krankenhaus finden?, fragte er sich. Wie soll ich mich dort besinnen? Wie innere Gefasstheit lernen? Oder Seelenruhe finden? Zu Hause hatte er alles, was er brauchte: Robs Liebe, Shannons Lebensfreude und die Hoffnung, bei der Geburt ihres Kindes noch am Leben zu sein.
Shannon verbrachte jeden Tag viel Zeit mit ihm. Vor einigen Wochen hatte er seine persönlichen Sachen aus Lightning Ridge kommen lassen: Schubladen und Schachteln voller Erinnerungen. Dinge, von denen er nicht wusste, dass er sie noch besaß. Sie setzte sich neben ihn aufs Bett, und sie betrachteten alles gemeinsam: verblasste Fotos und viele andere kleine Dinge, die einen Wirbel von Erinnerungen auslösten. Er hatte keine Geheimnisse vor Shannon. Keine Tagebücher, die sie nicht lesen durfte, keine Liebesbriefe, derer er sich schämte, keine Schachtel mit privaten Erinnerungen, die er für sich behalten wollte. Shannon betrachtete alles genau und dekorierte sein Schlafzimmer mit Gegenständen, die ihm etwas bedeuteten. Für das zerknitterte Foto von ihm und Rob als kleiner Bengel in Latzhosen hatte sie einen schönen Rahmen besorgt. Diese Besinnung auf sein Leben war ihm sehr wichtig. Er genoss es, dass sie sich gemeinsam mit ihm erinnerte, als wäre sie schon damals dabei gewesen, und er fand es schön, wie sie auf alles mit einer bewundernswerten heiteren Gelassenheit reagierte. Die Erinnerungen an sein Leben und die Bilder von Rob und Shannon, lächelnd und verliebt, waren das Letzte, was ihm in seinem Leben blieb. Das Kostbarste.
Tom tastete nach ihrer Hand auf seiner Schulter und legte sie auf sein Herz. »Shannon?«
»Ja?«
»Was würdest du tun, wenn dir die Zeit unter den Fingern zerrinnen würde? Wenn du nur noch vier Wochen zu leben hättest?«
Ein trauriges Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Sanft bewegte sich ihre Hand in seiner. »Ich würde leben , Tom.«
Er kicherte. »Ich auch. Was hältst du davon, wenn wir beide einen schöne lange Spazierfahrt am Strand machen? Mit deinem flotten Flitzer und einem Picknickkorb?«
Sie lächelte matt. »Das machen wir.«
Übermütig lachend legte Rob seinen Arm um Sissy und folgte ihr aus dem Laden. Die Schachtel mit dem
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