Im Herzen der Wildnis - Roman
blickte. Das Schiff hatte an Fahrt verloren und war schließlich stecken geblieben. Vergeblich hatten sie auf einen steifen Nordostwind vom Festland gewartet, der eine Fahrrinne zum Meer öffnete.
Im Morgengrauen hatte Josh entdeckt, dass sich das Eis um das Schiff geschlossen hatte. In einem nächtlichen Temperatursturz war der Schoner eingefroren. Seit Anfang Oktober lag die Gale Force nun etliche Meilen vor der Küste von Nunavik Island fest. Die verzweifelten Versuche der Crew, das Schiff aus dem Eis zu schneiden, zu hacken und zu sägen und einige hundert Yards weit ins offene Wasser zu schleppen, waren alle gescheitert – und mit jedem Monat wurde die Eisschicht dicker, und der Druck auf die Planken nahm zu. Acht Monate im Jahr war die Beringsee vor der Küste Alaskas zugefroren. Bis Ende Mai oder Anfang Juni, wenn das Eis wieder brach, wäre das Wrack zerborsten und versunken. What the ice gets, the ice keeps …
»Wir werden überleben, Leif. Wir werden Alaska durchqueren. Und wir werden nach Hause kommen.«
Im Sturm die Richtung zu halten war zwischen den schroffen Eisbergen nicht einfach. Im Schein des wogenden Polarlichts veränderte sich die Landschaft ständig. Aber der Sturm verwehte auch ihre Spuren im verharschten Schnee.
Um vom Schiff fortzukommen, stapften sie so schnell vorwärts, dass sie unter ihren Pelzkapuzen bald zu schwitzen begannen. Josh rann der Schweiß durch die Haare. Langsamer! Das Schwitzen war lebensgefährlich!
Drei Meilen in Richtung Osten wurde das Eis flacher und glatter, und das Vorwärtskommen mit dem schweren Schlitten, den sie jetzt nicht mehr über die Eisschollen wuchten mussten, wurde einfacher. Immer noch trieb ihnen der böige Sturm Eiskristalle in die Augen. Die Schneebrille nützte Josh nichts, denn innerhalb weniger Augenblicke waren die getönten Gläser mit einer Schicht gefrorenem Schnee bedeckt, und er konnte nichts mehr erkennen. Die Eiskristalle froren im Gesicht fest, drangen unter die Fellkapuze ins schweißnasse Haar, wehten durch die hochgeschlagenen Rollkragen ihrer Pullover und froren die Wolle an den Bärten fest. Reden? Unmöglich! Worüber auch? Jeder war in seine Gedanken versunken, um den Blizzard zu vergessen, schwelgte in schönen Erinnerungen und formulierte Briefe an seine Liebsten: Ich lebe noch. Es geht mir gut. Macht euch keine Sorgen. Ich komme bald zurück.
Dreitausend Meilen bis nach Hause!
Gegen halb zehn ging die Sonne auf und setzte die Wolken und das Eis in Flammen. Die grellen Lichtstrahlen bohrten sich schmerzhaft in Leifs Augen, aber er hatte keine Schneebrille, die ihn vor der Schneeblindheit schützte. Das Licht wurde immer greller, und während sie eine kurze Rast einlegten, klagte Leif bereits über das Gefühl von glühendem Sand in den Augen. Die weiße Welt, die sie umgab, sah er nur in feurigem Rot. Er versuchte, sich den Rollkragen über die brennenden Augen zu ziehen, aber der war am Bart festgefroren. Außerdem sah er auf diese Weise nichts. Josh brach ein Stück Holz aus dem Schlitten, das er mit seinem Bowiemesser als Stemmeisen und seinem Colt als Hammer mühsam spaltete. Die Fuge im Holz verbreiterte er Span um Span. Die Inuit trugen solche Brillen aus Karibugeweih und geflochtenen Sehnen, aber das Holz war zu hart, um es als Brille zurechtzuschnitzen. Josh reichte Leif das geschlitzte Brettchen. »Halt es dir vor die Augen!«, nuschelte er hinter dem steif gefrorenen Rollkragen. »Und schau nicht ins Licht!«
»Sag schon, Jay, wie sehe ich aus?«
»Wie jemand, der ein Brett vor dem Kopf hat!«, neckte er seinen Freund. Sein verkniffenes Grinsen riss ihm die Lippen blutig. »Was meinst du, soll ich ein Foto an die Vogue schicken? Im nächsten Winter tragen die New Yorker bestimmt eine solche Brille beim Schlittschuhlaufen im Central Park.«
Leif prustete los und haute ihm kichernd auf die Schulter. »Komm weiter!«
Meile um Meile stapften sie über das knirschende Eis, einen schmerzhaften Schritt vor den anderen, einen Gedanken nach dem anderen, den Blick nach vorn auf das horizontlose Weiß vor ihnen, auf die schroffen Eisberge neben ihnen, auf den Schnee zu ihren Füßen, auf die Spuren, die hinter ihnen verwehten. Leif zählte die Schritte, Josh nicht. Die meiste Zeit war sein Freund damit beschäftigt, sich zu überlegen, wie oft er schon bis Tausend gezählt hatte und wie oft er sich dabei wohl verzählt hatte. Egal, ihre Schritte waren so verlässlich wie ihre Atemzüge und ihre Herzschläge. Joshs Uhr
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