Im Herzen der Wildnis - Roman
zwischen Nunavik und Alaska wieder schroffer wurde und sie oft stolperten, auf dem Eis ausrutschten und der Länge nach hinschlugen.
Mitternacht! Das Festland war erreicht! Sie überquerten einen zugefrorenen Fluss, ein Sumpfgebiet und eine ausgedehnte Seenlandschaft. Kein Baum weit und breit! Keine Spur von Karibus! Weiter! Aber in welche Richtung? Nach Norden, über den Yukon nach St. Michael am Norton Sound? Oder nach Osten, über den Matanuska und die Chugach Mountains nach Valdez? Nach Norden waren es nur ein paar Tage. Aber der Norton Sound war bis Juni zugefroren. Bis Valdez waren es siebenhundertfünfzig Meilen. Der Marsch dauerte fünfzig bis sechzig Tage. Aber der Hafen war während des ganzen Jahres eisfrei. Sie könnten zwei Monate früher in San Francisco sein! Norden? Oder Osten? Die Entscheidung fiel erst, als sie nach weiteren neunzig Meilen nach Nordosten auf den Kuskokwim River trafen. Der Fluss entsprang in der Alaska Range und bildete zusammen mit dem Yukon an der Südwestküste Alaskas eines der größten Flussdeltas der Welt. Zum ersten Mal war Josh froh darüber, dass er im Winter unterwegs war, denn im Sommer waren die mückenverseuchten Sümpfe unpassierbar.
Sie schlugen das Lager am Ufer des Kuskokwim auf. Leif konnte nicht weiter, er war zu geschwächt, um noch einen Schritt vorwärtszutaumeln. Sein Einbrechen ins Eisloch hatte zu einer schweren Unterkühlung geführt. Völlig erschöpft ließ er sich in den verharschten Schnee fallen. Josh half ihm in seinen Fellschlafsack und wickelte ihn zusätzlich in Leifs Wolldecke. Dann ließ er ihn zurück und machte sich auf die Suche nach Holz für ein Lagerfeuer. Ihm war klar, dass Leifs geschwächter Zustand und seine grenzenlose Müdigkeit sein Ende bedeuten konnte. Denn Schlaf bedeutete Tod.
Josh wollte schon umkehren, um zu Leif zurückzugehen, als er im Licht der Abenddämmerung einen Elch entdeckte. Er warf das gesammelte Brennholz in den Schnee und legte die Winchester an. Ein Schuss, der über die vereiste Ebene hallte, und der Elch sank zu Boden. Josh nahm so viel Fleisch mit, wie er tragen konnte. Den Rest musste er den Wölfen überlassen, deren Heulen ihn während des ganzen Rückwegs verfolgte. Eine Stunde später servierte er das Abendessen. »Gegrilltes Elchsteak, wie köstlich!«, kommentierte Leif mit schwacher und heiserer Stimme, die Josh das Schlimmste befürchten ließ: Er hatte eine Lungenentzündung. »Fehlt nur die Preiselbeersauce.« Sein Lachen ging in einen erstickten, keuchenden Husten über. An diesem Abend las er den Brief an seine Tochter vor. Josh war entsetzt. Er klang wie ein Abschiedsbrief.
Leif wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er wollte verhindern, dass Josh ihn bis nach Valdez mitschleppte. Als Josh eingeschlafen war, kroch Leif aus dem Fellschlafsack, deckte seinen Freund mit der Decke und dem Schlafsack zu, legte die Kleidung ab, die Josh auf dem Hunderte Meilen langen Weg durch Alaska das Überleben sicherte, und taumelte hinaus in die Finsternis der sternenklaren Nacht.
Am nächsten Morgen fand Josh ihn, steifgefroren im Schnee, die Augen zum Himmel gerichtet. Glitzernder Schneestaub lag auf seinem Gesicht. Und noch etwas anderes: gefrorene Tränen. Neben ihm fand Josh einen Zettel.
Du bist der großzügigste und mitfühlendste Mensch, den ich kenne. Ich weiß, was Du für mich getan hast, und ich werde es Dir nie vergessen. Leb wohl, Jay! Ich hoffe, Du siehst Deine Frau und Deinen Sohn wieder! Umarme sie fest, und lass sie nie wieder los!
Leif
Josh konnte seinen Freund nicht begraben. Das Eis war zu hart, das Graben mit dem Bowiemesser zu kräftezehrend, und so bedeckte er Leif mit Schnee und setzte ein Kreuz aus verkohlten Zweigen auf sein Grab. In den Schnee schrieb er die Worte: Leif Larsson, März 1902. Der beste Freund, den ich mir wünschen konnte. Er gab sein Leben für meines.
Josh zog Leifs Parka über seinen, stopfte seine Sachen in die Tasche und steckte den Brief an Leifs Tochter Agnetha in Göteborg ein. Dann brach er auf. Dieses Mal zählte er seine Schritte. Sie führten ihn nach Osten, nach Valdez.
Der Sturm, der Josh mit Wucht nach Osten schob, dauerte drei kurze Tage und vier lange Nächte. Endlich flaute der Sturm ab, das Dröhnen verstummte, das Schneegestöber legte sich, und die Sicht wurde besser. Ein schmerzhaftes Grinsen huschte über sein Gesicht: Vor ihm ragten die Gipfel der Alaska Range auf. Welches Flusstal er hinaufstieg, wusste er nicht. Das Tal wand
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