Im Herzen der Wildnis - Roman
sich zwischen hohen Bergen hindurch, bevor es nach Norden abbog. Hatte er den richtigen Weg gewählt? Er hatte keine Karte! Würde das Tal irgendwo enden, ohne Gletscher, der noch weiter hinaufführte, ohne Übergang nach Norden oder Osten? Er marschierte weiter, ohne Schneeschuhe, ohne Proviant, ohne Brennholz.
Früher hatte er diese Einsamkeit geliebt: den kalten Winter, die klare Luft, die unendlichen Weiten, wo es keine Spuren im Schnee gab. So mancher Mensch verschwand in dieser Einsamkeit und wurde nie mehr gesehen. Früher hätte er den Blick auf die verschneiten Berggipfel über sich genossen, die auf keiner Karte verzeichnet waren. Früher hätte er laut gesungen, um auf den Widerhall seiner Stimme zu lauschen, in dem Bewusstsein, der einzige Mensch in diesem Tal zu sein. Und jetzt? Er sehnte sich nach einem anderen Ort jenseits des Nachtlagers aus festgetretenem Schnee, einem Lagerfeuer und einem Schlafsack. Er freute sich darauf, in ihren Armen zu liegen, weich und warm, und neben ihr einzuschlafen.
Nach etlichen Meilen bog das Tal nach Osten ab und verengte sich um einen zugefrorenen Bergsee. Josh erklomm Abhänge und Felsklippen, stieg immer höher und war immer noch nicht am Ende des Tals angekommen. Trotz der Anstrengungen, der Kälte und der dünnen Luft packte ihn ein rauschhaftes Hochgefühl. Leise summte er vor sich hin, während er vorwärtsstolperte.
Liszts Liebestraum ließ ihn die Schmerzen vergessen, und die Hoffnung, Shannon wiederzusehen, gab ihm Kraft. Das Tal mündete auf einen Gletscher, der immer schmaler wurde, bevor er an einem vereisten Grat endete. Die Kletterei war unendlich mühsam, jeder Schritt nach oben war eine Tortur, ein Wagnis, denn Josh hatte weder Steigeisen noch ein Seil. Wenn er abrutschte, landete er auf dem verharschten Eis. Aber er fiel nicht, und er gab nicht auf. Nach Stunden hatte er endlich den Gipfel des Eisgrats erreicht. Taumelnd stand er dort oben und blickte sich um. Tief unter ihm führte ein anderer Gletscher nach Norden.
Der Abstieg war leichter als der Aufstieg, denn unterhalb des Grats führte ein Hang sanft hinab zum Eis. Nach einer kurzen Rast marschierte er weiter. Der Gletscher mündete in einen Fluss. Weiter, nach Osten! Ein anderes Flusstal führte ihn erneut hinauf in die Berge. Dieser zweite Übergang war flacher und leichter, und nach wenigen Tagen, an einem sonnigen Morgen Ende März, ließ Josh die Alaska Range endlich hinter sich. Die Berge wurden flacher, die Tundra ging in weite Wälder über, und nach etlichen Meilen stieß er auf ein ausgedehntes Flusssystem. Der Susitna River! Und die Eisfläche dort drüben war der zugefrorene Cook Inlet!
Die Brandon Corporation unterhielt hier in der Gegend einen Trading Post. Aber wo? In den Wäldern? Oder am Meer? Josh fand Spuren und folgte ihnen zum Handelsposten, einer Ansammlung von kleinen Hütten, über denen die amerikanische Flagge wehte. Allerdings die der konförderierten Südstaaten: ein blaues Kreuz mit weißen Sternen auf rotem Grund. Er begriff es, sobald er Jeremy gegenüberstand. Er war sechzig, schwarz und stammte aus Mississippi. Die Konföderiertenflagge war kein Scherz! Jeremy hatte als Sklave die Baumwollplantage verlassen, um für seine Freiheit zu kämpfen! Er war in Gettysburg gewesen, und er hatte Abraham Lincoln kennengelernt. Seine Hütte beschwor Erinnerungen an große Plantagen in Mississippi und die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn herauf. Die Bücher von Mark Twain entdeckte Josh tatsächlich auf dem Bücherbrett über dem Bett.
Josh blieb drei Tage bei Jeremy und hockte in eine Decke gewickelt vor dem Holzofen. Meist aber schlief er, denn er war am Ende seiner Kräfte. Jeremy, der nicht wusste, dass Josh sein Boss war, verwöhnte ihn mit Elchbraten und Karibusteaks, Bratkartoffeln mit Speck und einigen Gerichten aus der Südstaatenküche. Hätte der Handelsposten, den Jeremy sinnigerweise Anchorage, also Ankerplatz, genannt hatte, einen Telegrafen gehabt, wäre Josh gern noch einige Tage länger geblieben, um sich zu erholen. Aber er musste weiter: Seine Familie musste erfahren, dass er noch lebte.
Jeremy spannte seine Huskys an, ließ Josh im Kaninchenfellschlafsack auf dem Schlitten Platz nehmen und fuhr ihn achtzig Meilen weit den Matanuska River hinauf. Die Fahrt dauerte sechs Stunden. Dann ging es mit fröhlichem Gekläff eine weitere Stunde hinauf ins Lager von Håkon und Arne, die fast rückwärts in den Schnee kippten, als sie Josh vor sich
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