Im Herzen der Wildnis - Roman
war in der Polarkälte längst stehen geblieben. Leif und er maßen die Zeit, die Sekunden, Minuten und Stunden ihrer Lebenszeit, in Schritten – weiter dachten sie nicht. Sie mussten zum Festland, um zu überleben. Nur dort konnten sie Holz sammeln, um Feuer zu machen, und nur dort konnten sie jagen, kochen, essen, trinken, sitzen, ausruhen, schlafen. Bis sie Nunavik erreichten, liefen sie ohne längere Rast in Richtung Freiheit. Und zählten Schritte.
Das Problem war nicht, Nunavik zu erreichen, sondern zu wissen, dass sie es erreicht hatten. Die Insel war flach, und nur am steinigen Strand im Westen stieg das verschneite Land sechzig oder siebzig Yards über das zerklüftete Eis der Beringsee. Im Südwesten war der Strand jedoch so flach, dass man beim Vorwärtsstolpern den Anstieg nicht bemerkte. Doch erst als Josh am Horizont einen Eisbären entdeckte, der Robben jagte, war er sicher, dass Nunavik nur noch wenige Meilen entfernt war.
Leif folgte seinen Blicken. »Mensch isst Eisbär?«
»Eisbär frisst Mensch.« Josh schüttelte den Kopf. »Eisbärenfleisch ist mit Fadenwürmern verseucht. Und roh können wir es sowieso nicht essen. Komm weiter, Leif, ich kann keinen Schuss vergeuden. Ich habe nicht genug Munition, um wochenlang zu überleben.«
Leif zuckte mit den Schultern. »Ich freue mich schon seit Stunden auf ein Karibusteak. Mit Bratkartoffeln und Speck. Und heißer Preiselbeersauce.«
Josh konnte nicht anders, er musste lachen. Sie wurden immer alberner, kicherten und lachten – neben dem beschleunigten Herzschlag, dem Schwindel und der Schwäche war das ein sicheres Zeichen, dass sie dehydrierten. Das Wasser in ihren Flaschen war gefroren, und sie konnten kein Feuer machen, um Schnee zu schmelzen und zu trinken.
Weiter! Neunhundertvierundneunzig … neunhundertfünfundneunzig …
Ein Anstieg! Nunavik? Und dann? Die Insel war sechzig Meilen lang, die Meerenge dahinter weitere dreißig. Dann erst begann das Festland von Alaska.
Um halb acht ging die Sonne unter, aber sie marschierten im Schein des Nordlichts weiter. Keine Spuren im Schnee, kein Karibu, das sie jagen konnten, kein Stück Holz. Sie durften nicht rasten, sie mussten weiter. Auf dem Land kamen sie schneller voran als auf dem Meer, denn das Eis war nicht zerklüftet, und sie mussten ihren Schlitten über keine Eisschollen hieven. Am Abend des 26. Februar, kurz nach Sonnenuntergang, erreichten sie die Ostküste. Woran sie das merkten? Leif stolperte über eine Eiskante und stürzte. Dabei brach er durch dünnes Eis und versank im Wasser. Er war in ein Robbenloch getreten, das gerade erst zugefroren war!
Jede Sekunde zählte! Josh zog Leif aus dem Wasser und riss ihm die Kleider vom Leib, bevor sie steif froren. Dann zog er seinen Parka aus und warf ihn Leif zu. »Bleib in Bewegung, bis das Feuer brennt!« Mit der Axt zerschlug er den Schlitten und schichtete das Holz zu einem Lagerfeuer auf. Endlich züngelten die Flammen hoch! Leif tanzte um das Feuer herum und kicherte wie ein Irrer, während Josh in zwei Blechtassen Eis schmolz. Zwei Hand voll gemahlener Kaffee machten daraus ein Abendessen. Während das Feuer brannte, tranken sie, so viel sie konnten. Leif lag in Joshs Kaninchenfellschlafsack und schrieb einen Brief an seine kleine Tochter in Göteborg. Josh hüllte sich in Leifs Decke und schrieb wieder an Shannon:
Nur eine kurze Zeile, bevor das Feuer verlischt und die Dunkelheit der Polarnacht uns umfängt. Es geht uns gut, und wir sind zuversichtlich, es bis nach San Francisco zu schaffen. In zwei oder drei Monaten bin ich zu Hause. Jeder meiner Schritte führt mich zurück zu dir.
Du bist in meinem Herzen, Josh.
Die Nacht wurde zur Tortur. Die eisige Kälte ließ sie stundenlang wach liegen und das Nordlicht beobachten. Sie sehnten sich nach ein paar Stunden Ruhe, doch Einschlafen hätte den Tod bedeuten können.
Am nächsten Morgen gelang es ihnen, am Eisloch eine Robbe zu schießen. Der Schlitten war verbrannt, und sie hatten kein Holz mehr, um das Fleisch zu grillen, also aßen sie es roh. Das warme Fleisch stopften sie sich unter die Parkas und Pullover, bevor es gefror. So konnten sie in den nächsten Stunden immer wieder ein Stück abschneiden und essen. Nachts taten sie dasselbe mit ihren Wasserflaschen: Sie füllten sie mit Eis, das unter ihren Pullovern im Schlafsack bis zum Morgen auftaute.
Ohne den Schlitten mussten sie ihre Ausrüstung tragen, daher kamen sie nur langsam voran, zumal das Eis im Meeresarm
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