Im Herzen der Wildnis - Roman
und setzte erneut die Flasche an. Mit einer lässigen Geste deutete er auf das geladene Jagdgewehr, das in seiner Reichweite am Klapptisch lehnte. Der Löwe hatte Blut geleckt. Sein Blut.
»Außerdem ist ein Telegramm aus San Francisco gekommen«, sagte Evander.
»Charlton Brandon?«
»Yeah.« Evander hielt ihm das Telegramm hin.
Im Schein des Lagerfeuers überflog Rob den kurzen Text. Mit einem zufriedenen Grinsen gab er es zurück, dann nahm er das Bein von Evanders Knie und setzte sich auf. »Ich hau mich jetzt aufs Ohr.«
»Es ist doch noch nicht mal dunkel.«
»Ich bin ziemlich müde, und wir brechen im Morgengrauen auf. Ich will den Löwen zur Strecke bringen.« Rob musterte die Safarikleidung seines Freundes. »Was ist, kommst du mit?«
Er stand schwankend auf, während Evander sitzen blieb, die langen Beine übereinanderschlug und mit verkniffenen Lippen zu ihm aufblickte. »Rob?«
Er hielt sich am Tisch fest, um nicht zu stürzen. »Was?«
»Wann fährst du nach San Francisco?«
Mit offenem Mund starrte Tom zu den Sequoias hinüber, deren wuchtige Stämme im Morgennebel nur schemenhaft zu sehen waren und deren hohe Kronen in den Wolken verschwanden. »Als ob die Bäume den Himmel tragen!«, rief er fasziniert. Er stützte sich auf Shannon, als der Stallknecht und sie ihn vor einem umgestürzten Sequoiastamm auf den weichen Waldboden setzten. »Fantastisch! Gigantisch! Überwältigend!«
»Tom, wir sind noch nicht einmal im Wald, wo die richtig großen Sequoias stehen«, lachte sie und kniete sich neben ihn.
Der Stallknecht holte unterdessen das Pferd für Tom. Shannon hatte Princesse ausgewählt, die sie früher geritten hatte. Mit ihr würde er zurechtkommen. Sie hatte nicht so viele Flausen im Kopf wie Chevalier, den Shannon während ihrer kleinen Expedition in den Sequoiawald reiten würde. Tom gab der Stute eine Hand voll knuspriger Brotrinden, und Princesse schnaubte zufrieden. Der Stallknecht zwang die Stute, sich hinzulegen, hielt sie am Halfter und klopfte auf ihren Hals. Shannon half Tom, sein linkes Bein vor dem Sattel anzuwinkeln und sein rechtes über den Bauch des Pferdes zu legen. Mit beiden Händen klammerte er sich am Sattelknauf fest. Sie packte Tom bei der Schulter und hielt sein angewinkeltes Bein. Falls er abrutschte, konnte sie seinen Sturz abfangen. »Los geht’s!«
Während die Stute schwungvoll hochkam, wuchtete Shannon Tom in den Sattel und schob seinen Fuß in den Steigbügel. Princesse blieb ganz ruhig stehen, als Shannon um sie herumging, um auch dem anderen Fuß Halt zu geben.
Mit einem glücklichen Lächeln nahm Tom die Zügel und blickte auf sie herab. »Ach, Shannon, du weißt gar nicht, welche Freude du mir mit diesem Ausritt machst. Seit meinem Unfall bin ich nicht mehr geritten.«
»Ich freue mich mit dir, Tom.« Sie ging zu Chevalier hinüber, der übermütig den Kopf hochwarf und die lange Mähne schüttelte, und schwang sich hinauf. Ein rascher Blick zur Winchester am Sattel: Das Gewehr war geladen und gesichert. Hinter ihr war eine Wolldecke aufgeschnallt, und die Satteltaschen waren gefüllt mit Proviant für das Picknick.
Sie nickte zufrieden, dann wandte sie sich an den Stallknecht. »In sechs Stunden sind wir zurück.« Sie deutete mit dem Kinn hinüber zu der Kutsche, mit der sie von der Anlegestelle im Hafen von Sausalito heraufgekommen waren. »Wir fahren dann weiter zu unserer Lodge in San Rafael, wo wir zu Abend essen und die Nacht verbringen werden. Morgen Mittag werden wir nach San Francisco zurückkehren.« Sie drehte sich im Sattel um. »Tom?«
»Von mir aus kann’s losgehen.«
Durch den dichten Nebel ritten sie tiefer in den Wald hinein. Tom verrenkte sich schier den Hals, als er an den gewaltigen Stämmen hinaufblickte. Hoch oben in den Wolken, die vom Pazifik in die Bay zogen, waren die Kronen kaum zu erkennen. »Wie wunderschön es hier ist!«, begeisterte er sich. »Neben den Sequoias komme ich mir ganz klein vor. Das ist überwältigend! Warst du schon oft hier?«
»Als Kind, mit meinem Vater und meinen Brüdern. Die Ehrfurcht vor der Macht des Menschen, der sich die Natur unterwirft und mit schierer Gewalt verändert, haben wir Kinder in den Goldfeldern gelernt. In der Sierra Nevada wurden mit riesigen Schläuchen und enormem Wasserdruck die Geröllhalden am Fuß der Berge unterspült, sodass ganze Bergflanken einbrachen und das Gold vom abfließenden Wasser in die Flüsse geschwemmt wurde. Der gewaltige Wasserstrahl schlug einen
Weitere Kostenlose Bücher