Im Herzen der Wildnis - Roman
gefährden würde. Er gibt sich sanft und verständnisvoll, aber ich spüre seine Ungeduld. Nicht nur mit mir, sondern auch mit den Ladys, die er mir vorstellt und die ihm ebenso wenig gefallen wie mir. Er kommentiert ihr ungeniertes und hemmungsloses Flirten mit mir nicht. Aber ich sehe, wie er angesichts dieses geistlosen Geplappers, das ich mit einem Lächeln über mich ergehen lasse, entnervt die Augen verdreht. Ian, ich bin es leid, meine Wochenenden damit zu verbringen, fallen gelassene Taschentücher aufzuheben und zu entscheiden, welcher Dame ich ein Blumenbouquet überreiche und auf welchen Tanzkarten ich mich eintrage. Die Langeweile macht mich streitsüchtig. Das spürt Charlton, dem es gestern gar nicht gut ging – er klagte über ein leichtes Stechen in der Brust und verkroch sich in einen Sessel auf der Veranda, während wir anderen ausritten. Als ich zurückkam, erfuhr ich, dass er einen Arzt gerufen hatte. Nicht, dass Charlton mir das selbst erzählt hätte! Ich musste ihn erst fragen, wie es ihm geht, bevor er die Zähne auseinanderkriegte! Ich glaube, er versteht mich, denn er ist sehr still und reizt mich nicht noch weiter. Ich habe ja verstanden, was er mir sagen will: Heirate!
Charltons Herzflimmern hat mich erschreckt. Der harte Granit hat die ersten Risse bekommen, und das scheinbar unverwüstliche Fundament wird brüchig. Ich habe Angst davor, dass ihn seine Lebenskraft verlassen könnte. Ich will die Verantwortung noch nicht allein übernehmen – schon gar nicht, wenn Du nicht hier bist, um mir zur Seite zu stehen. Ich will noch nicht auf meine Freiheit verzichten, auf das Abenteuer, durch die Wildnis zu reiten und nicht zu wissen, wo ich mein Lager aufschlagen werde. Und ich will nicht darüber nachdenken, was sein wird, wenn Charlton eines Tages nicht mehr da ist und ich von meinem Schreibtisch aus in das leere Büro gegenüber blicke.
Ian, wie gern würde ich meine Taschen packen und zu Dir nach Alaska kommen, um mich Dir anzuvertrauen und um Deinen Rat zu hören, was ich tun soll. Charlton will, dass ich mir eine Frau suche, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will. Aber die habe ich doch längst gefunden. Shania hat Herz und Verstand, und ich liebe sie. Mit ihr bin ich glücklich – wenn ich nicht gerade unglücklich bin, weil wir uns nur so selten sehen. Sie verbringt viel Zeit mit ihrem Bruder, der vor einigen Wochen einen Selbstmordversuch überlebt hat. Shania versetzt mich in sprachloses Staunen, und ich bewundere sie dafür, mit wie viel Kraft sie sich um ihn kümmert, mit wie viel Geduld und Liebe sie versucht, ihm die Freude am Leben zurückzugeben.
Jeder Augenblick mit ihr ist ein Geschenk, und dafür lebe ich. Es ist ein berauschend schönes Gefühl, sie in meinen Armen zu halten und ihr die Geborgenheit und Liebe zu schenken, die sie jetzt so dringend braucht. Wir sprechen nicht darüber, aber ich glaube, sie ist in derselben Situation wie ich. Sie soll endlich heiraten. Ian, ich habe furchtbare Angst, dass ich sie an den anderen verliere, den Kerl mit Herz und Verstand, dessen Ring sie trägt, wenn sie nicht bei mir ist.
Ich will sie zärtlich und leidenschaftlich lieben und den Rest meines Lebens mit ihr verbringen. Egal, was Charlton dazu sagt. Ich wünschte, Du wärst jetzt hier und würdest mir mit einfühlsamen Worten oder einem verständnisvollen Schweigen sagen, dass ich mich im Grunde meines Herzens doch längst entschieden habe. Ian, soll ich es wagen?
Josh
PS Der arktische Opal ist angekommen. Charlton will den Stein einem Aussie zeigen, der die größten Opalminen in New South Wales besitzt. Nein, es ist nicht der, an den Du jetzt denkst, sondern sein Sohn, der in den nächsten Tagen nach San Francisco kommen wird. Und kein Wort zu Colin! Aber grüße ihn von mir!
Nachdenklich ließ Ian den Brief sinken und starrte in das schwarze Wasser des Fjords und auf die schneebedeckten Berge von Valdez. Was mochte in der letzten Woche, seit dieser Brief unterwegs war, alles geschehen sein?
Sein Leithund Rusty, ein schwarzweißer Husky mit hellblauen Augen, legte Ian die Schnauze in die Armbeuge und guckte ihn mit schief gelegtem Kopf derart arglos an, dass er lachen musste. Rusty hatte heute nur Flausen im Kopf. Als vorhin der Dampfer aus San Francisco mit dröhnendem Nebelhorn seine Ankunft angekündigt hatte, war er in ein so hingebungsvolles Geheul ausgebrochen, dass die Reisenden an Bord sich neugierig an der Reling drängten und winkten. Rusty ließ
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