Im Herzen der Zorn (German Edition)
Damals hatte er gesagt, der Song wäre noch in Arbeit, aber inzwischen war er eindeutig fertig. Er war gut. Seemannsliederklänge erhoben sich vor dem hellen Klang eines Klaviers im Hintergrund und seine Worte ertönten klar und kraftvoll über allem. Sie hielt beim Stiefelschnüren inne und lauschte dem Liedtext:
I don’t know what tomorrow brings, or when the dark will come.
Right now is all we’ve got – baby, let’s be young.
Sie konnte sich genau vorstellen, wie er es sang, wie seine dunklen Augen sich verengten, wenn er versuchte, die höheren Töne zu erreichen, wie ihm die Haare ins Gesicht fielen, wenn er den Kopf senkte, um zu den raueren zu gelangen. Das Bild wurde jedoch rasch von dem Gedanken an JD überschattet. Daran, wie er die Hände bewegte, wenn er sich über irgendetwas wirklich aufregte, wie er die Stirn in Falten legte, wenn er versuchte, etwas herauszufinden, wie er ihr immer das erste Stück Kuchen überließ und das Sagen über das Radio, wenn sie gemeinsam Auto fuhren. Die Art und Weise, wie er sie ansah, so als wäre sie wirklich da, nein, so als wäre sie das Einzige, was er überhaupt wahrnahm.
Right now is all we’ve got … Die Worte sprangen ihr in Kopf und Herz, gaben ihr einen Schub neuer Energie. Sie hatte das Recht, Fehler zu machen, und das Recht, sie wieder in Ordnung zu bringen.
Am selben Tag kehrte Gabby in die Schule zurück. Ihr Gesicht war noch immer rot und wund, aber sie hatte die Sache überstanden, was ihre körperliche Gesundheit betraf, jedenfalls. Sie trug enge Jeans und Keilstiefel, ein grünes Top und den Glitzerschal, den Em ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Das Outfit schrie quasi: Mir geht’s gut! Trotzdem überschütteten ihre Freundinnen – und selbst beinahe Fremde – sie mit Zuwendung, Fürsorge und Hilfsangeboten. Sie hatte nur einen Tag in der Schule gefehlt, aber es war, als wäre sie wochenlang fort gewesen.
Beim Mittagessen, bei dem sie zusammen im hellen Winterlicht saßen, das durch die Dachflächenfenster in der Rotunde fiel, beobachtete Em, wie Gabby sorgfältig die Soße auf ihrem Salat verteilte, ein welkes Blatt herauslas und sich eine Olive in den Mund steckte. Es hatte den Anschein, als wäre alles beim Alten.
Dabei wäre Gabby fast gestorben. Sie saßen zu zweit am Tisch, alle anderen waren noch dabei, sich ihr Mittagessen zu holen, oder trudelten gerade erst langsam vom Unterricht ein.
Gabby räusperte sich. »Ich wollte mich noch mal bei dir bedanken. Wir hatten kaum einen Augenblick allein, seit … das passiert ist«, sagte sie und strich sich sachte über die gerötete Wange.
»Ich weiß. Wir sind irgendwie dauernd von deinen begeisterten Fans unterbrochen worden«, antwortete Em mit einem sanften Lächeln und meinte den endlosen Strom von Besuchern und Blumenlieferungen, der am Tag zuvor zuerst im Krankenhaus und dann am Nachmittag, während Gabby sich zu Hause erholt hatte, bei ihr aufgelaufen war.
»Das war so lieb von allen, findest du nicht?« Gabby schüttelte verzückt den Kopf. »Aber ehrlich, Em. Danke. Ich weiß, dass du wahrscheinlich – dass du mir das Leben gerettet hast.« Gabby stockte die Stimme, während Em das schlechte Gewissen überkam.
»Gabby, wenn ich früher da gewesen wäre – wie geplant –, dann wäre die Reaktion noch nicht so weit fortgeschritten gewesen.« Sie ließ den Kopf hängen, sodass ihr einzelne Haarsträhnen ums Gesicht fielen. »Es tut mir leid, dass ich zu spät war und dass ich deine Nachrichten nicht bekommen habe.«
»Schon gut, Em. Wir wissen beide, dass ich von Glück sagen kann, dass du überhaupt gekommen bist.« Sie nahm die Schultern zurück und richtete die nächste Frage an den ganzen Tisch, der sich langsam gefüllt hatte, während sie miteinander sprachen. Lauren fütterte Nick mit Pommes frites. Jenna holte eine Tafel dunkle Schokolade hervor und überreichte sie Gabby als Genesungsgeschenk. »Also, wo sollen wir den Ball anfeiern?«
Da wusste Em, dass ihre Unterhaltung vorbei war. Gabby war wieder voll da. Es verstand sich immer von selbst, dass Gabs sowohl die Vor- als auch die Nachfeier des Balls arrangierte. Das hatte sie jedes Jahr getan.
Lauren und Fiona tauschten einen kurzen Blick aus.
»Skylar hat was davon gesagt, etwas mit Jess Marshall und ihrer Clique zu unternehmen.« Laura klang zögerlich und blinzelte ziemlich. »Aber egal. Was immer du willst, Gabs.«
Gabby setzte ihr bestes Nachrichtensprecher-Lächeln auf und legte den Kopf zur Seite.
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