Im Herzen der Zorn (German Edition)
sozusagen.
Zweitens war sie sich sicher, dass Pierce seine Meinung ändern würde, wenn er erst einmal einen Moment Zeit hatte, ohne irgendwelche Ablenkungen auf sich wirken zu lassen, wie sehr sie sich entwickelt und verändert hatte – wie ein Schmetterling, wie ein Schwan. Heute Abend würde Pierce Travers erkennen, dass Skylar alles hatte. Alles, was Gabby hatte, und noch mehr.
Und als letztes Mittel hatte sie außerdem beschlossen, ihm zu erzählen, Gabby habe sie geschickt, um ihm auszurichten, sie sei nicht interessiert und er solle sie in Ruhe lassen. Falls Gabby für ihn nicht ohnehin schon aus dem Rennen war, würde sie seine Illusion von ihr zunichtemachen.
Lipgloss. Die Haare mit Klemmen nach oben gesteckt. Zartlila Lidschatten, um das Grün ihrer Augen zu betonen. Schwarze Jeans, ein pinkfarbenes Shirt, ein hellblauer Schal, ihre grauen Ankleboots. Die Wimpern schön geformt, braune Tusche aufgetragen – die wirkte bei Blondinen nicht so hart, hatte Gabby einmal zu ihr gesagt. Ihre Beine waren frisch rasiert, sogar unter der Jeans. Nicht dass sie annahm, Pierce würde sie berühren (heute Abend jedenfalls nicht), sondern weil sie sich schon seit drei Uhr »fertig gemacht« hatte. Meg hatte natürlich geholfen. Und nun war jedes einzelne Detail ihres Äußeren perfekt. Beziehungsweise so nah an perfekt, wie Skylar eben kommen konnte.
»Wird ’ne Menge Schnee geben heute Abend«, dachte Meg laut, während Skylar noch einmal ihr Make-up im Spiegel überprüfte. Skylar hatte Meg seit dem unheimlichen Vorfall am Teich kaum gesehen. Sie hatte sie gar nicht groß vermisst. Es war tatsächlich erstaunlich, wie viel sie in so kurzer Zeit dazugelernt hatte. Sie kam inzwischen ganz allein zurecht.
Marty Dove und die Nachrichten sagten für den heutigen Abend mindestens dreißig Zentimeter Schneehöhe voraus. Das war in Maine keine Seltenheit im März, aber es würde Skylars erster Schneesturm sein, seit sie nach Ascension gezogen war. Sie hoffte, bis nach ihrem Rendezvous mit Pierce würde es nicht allzu schlimm werden. Obwohl es ein ziemlich romantischer Beginn ihrer Beziehung wäre, wenn sie mit Schneeflocken auf Wimpern und Nasen zusammen draußen spazieren gingen. Er hatte ihr einmal erzählt, wie sehr er es mochte, im Freien zu sein, wenn es stürmte. Skylar musste laut seufzen, als sie daran dachte.
Meg sprach Skylar Mut zu, während sie sie in ihrem weinroten Lincoln zur Schule fuhr. Nur weiter so. Sie müsse Pierce nur zeigen, wie wunderbar sie war, bla bla bla. Skylar mochte nicht länger darüber reden, sondern wollte den Plan endlich in die Tat umsetzen. Sie konzentrierte sich auf die wunderschönen Schneeflocken, beobachtete, wie sie auf die Windschutzscheibe klatschten und zu Wassertropfen schmolzen.
»Soll ich hier draußen auf dich warten?« Meg legte den Kopf zur Seite, während Skylar sich auf dem Schulparkplatz ein letztes Mal zurechtmachte.
»Ähm, nein«, antwortete Skylar in einem spontanen – und wie sie hoffte berechtigten – Anfall von Selbstvertrauen. »Pierce kann mich ja mitnehmen.«
»Das ist die richtige Einstellung«, erwiderte Meg und nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet. »Viel Glück, ihr Süßen – ihr habt es verdient.«
Skylar fühlte sich nicht halb so selbstsicher, wie sie vorgab, versuchte jedoch, sich innerlich aufzubauen, während sie das Gebäude durch die Aulatür betrat und durch den hinteren Flur in den Bibliotheksflügel ging, der zur Cafeteria führte. Ihre Stiefelabsätze verursachten klackernde Geräusche, die von den Wänden und Fenstern der leeren, dunklen Gänge widerhallten. Es machte Spaß, allein in der Schule zu sein. Sie summte ein wenig vor sich hin und ihre Stimme wurde von den Türen der Spinde und Klassenzimmer zurückgeworfen.
Sie hatte erwartet, dass in der Cafeteria mehr Mondlicht durch die Oberlichter der Rotunde scheinen würde, doch das Glas war bereits dick mit Schnee bedeckt. Es war düster und schummrig. Intim. Pierce würde gar nicht anders können, als sich in sie zu verlieben. Sie grinste und drehte sich, die Arme weit ausgestreckt, auf dem frisch gebohnerten Linoleum einmal im Kreis. Ihr rosa Mantel bauschte sich. Trotz der leeren Tische und Bänke, der sich wellenden Plakate und dem Geruch des Schulmittagessens, der noch immer in der Luft hing, war es inmitten der Stille ganz einfach, sich vorzustellen, die amtierende Miss Perfect zu sein.
Und dann hörte sie es – das leise Quietschen von Gummisohlen im Gang.
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