Im Herzen der Zorn (German Edition)
gefunden hat.«
Skylar nickte stumm. Dann begann die Krankenschwester, die Leute aus dem Zimmer zu scheuchen: »Genug Aufregung fürs Erste.« Skylar war dankbar für die Entschuldigung, gehen zu können. Sie wartete noch nicht einmal auf den Fahrstuhl am Ende des Flurs; stattdessen nahm sie die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal. Sie hatte nicht viel Zeit zu verlieren.
»Schon fertig?« Tante Nora sah von ihrer Zeitschrift hoch, als Skylar die Beifahrertür aufriss.
»Ja«, antwortete Skylar atemlos. »Ähm, wir müssen noch mal bei Gabby zu Hause vorbei. Sie – ich muss was für sie erledigen.«
»Jetzt gleich?« Tante Nora blickte forschend in Skylars Gesicht, wobei sich die Haut zwischen ihren Augen sorgenvoll runzelte.
»Ja … es ist … es ist was für die Schule«, erklärte Skylar und zog nervös den Reißverschluss ihrer Fleecejacke auf und zu, während sie sprach. »Für den Ball! Ich muss diese Liste von ihrem Schreibtisch holen und später noch ein paar E-Mails rausschicken.« Skylar versuchte, so munter wie möglich zu klingen. »Es dauert nur einen Moment.«
Sie wusste, dass bei den Doves niemand zu Hause sein würde. Sie hatte Gabbys Mom und Dad ja im Krankenhaus gesehen und war sich so gut wie sicher, dass sie bei ihrer Tochter bleiben würden, bis sie entlassen werden konnte. Skylar ließ Nora die ganze gewundene Einfahrt hinauffahren und lief dann schnell zur Hintertür hinein und die Treppe hinauf. Die Creme stand geöffnet auf Gabbys Kommode. Es sah nicht so aus, als hätte sie seit »dem Vorfall« jemand angefasst. Mein Gott. Musste das alles schnell gegangen sein . Mit einem Schaudern schraubte sie den Deckel wieder zu und steckte den kleinen Cremetopf ein, wobei sie ein Gefühl der Erleichterung überkam, als er endlich in ihrem Besitz war. Vielleicht hatte sie die Sache ja doch noch im Griff …
»Ich … ich komme mir einfach mies vor«, sagte Skylar später am Telefon zu Meg. »Gabby war immer nur nett zu mir und jetzt bin ich schuld, dass sie im Krankenhaus ist!« Sie lag auf ihrem quietschenden Bett und starrte an die holzverkleidete Zimmerdecke. Die Creme war sicher unter ihren ältesten T-Shirts in einer Schublade verstaut. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Gabby merkte, dass sie verschwunden war. Der Muschelsaft war in ihrer Tasche, um am nächsten Tag in der Schule weggeworfen zu werden.
»Skylar, jetzt mach dich nicht verrückt«, antwortete Meg. Ihre Stimme klang weit weg. »Du hattest doch keine Ahnung, dass die Reaktion so schlimm werden würde.«
»Aber ich kann gar nicht fassen, dass ich das alles getan habe«, erwiderte Skylar. »Das … das bin nicht ich.« Nicht mehr. »Was für ein Mensch würde denn so was tun?«
»Sky, Süße. Du hast doch nicht gewollt, dass es dazu kommt, stimmt’s? Bloß ein kleiner Scherz, der ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. Falls es irgendwer jemals rausfinden sollte – was nicht passieren wird –, dann ist deine Geschichte absolut glaubwürdig.«
Skylar seufzte. Sie hätte Meg, die scheinbar alles unter Kontrolle hatte, die immer so ruhig und gefasst blieb, gerne vertraut. Aber ihr seltsames Benehmen vor ein paar Tagen, die Gleichgültigkeit, mit der sie auf den Leichenfund an dem Teich reagiert hatte, ließ Skylar sie in einem anderen Licht sehen. Und heute Abend lag etwas in ihrer Stimme, das dafür sorgte, dass Skylar sich noch schlechter fühlte.
Ein kleiner Scherz, der ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. Trotz ihres lockeren Tonfalls schienen Megs Worte sorgsam gewählt, wie ein Echo früherer Worte, früheren Trostes. Wieder einmal fragte Skylar sich, ob irgendeine entfernte Möglichkeit bestand, dass Meg von Lucys Unfall wusste. Aber wenn ja, warum rückte sie nicht damit raus und sagte es einfach? Oder war es nur Skylars schlechtes Gewissen, das wieder einmal verrücktspielte?
»Süße, ich muss los«, sagte Meg in dem Moment. Skylar hatte beinahe vergessen, dass sie ihr Handy noch in der Hand hielt. »Bin mit Ty und Ali verabredet. Ruf mich an, wenn du mich brauchst!« Sie legte auf.
Skylar rollte sich auf ihrem Bett zusammen und schmiegte die Wange an den zerschlissenen Stoff von Tante Noras Patchworkdecke. Skylars Großmutter mütterlicherseits hatte sie genäht. Die Mom ihrer Mom. Plötzlich sehnte sich Skylars ganzer Körper nach ihrer Mutter – nach jemandem, der sie festhielt und dafür sorgte, dass sie sich besser fühlte. Sie rieb sich die Stelle am Arm, wo die Biene sie
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