Im Herzen Des Lichts
festhielt.
Der napatanische Gelehrte kletterte regelrecht anmutig hinauf und benutzte Samlors Arm wie die Stange eines Trapezes, um sich über das Fensterbrett zu schwingen. Erst dann drehte der Karawanenmeister sich um und sah nach, wo sie waren und was seine Nichte tat.
Stern ließ drei Kraken aus Lichter durch die Luft schwimmen. Ein blauer Krake segelte unter der Decke, die mit Fresken von Gottheiten in menschlicher Gestalt verziert war; ein gelber pirschte zwischen den Beinen eines Schreibtisches mit prächtigen Perlmuttintarsien.
Der dritte war von so blassem Blau, daß er sich kaum von der geschnitzten Tür abhob, vor der er schwach schaukelte.
»Wo ist.« Samlor blickte Khamwas suchend an. »Ihr wißt schon - Euer kleiner Freund?«
Tjainufi erschien auf der rechten Schulter des Napataners. Das Männchen bewegte sich mit der lautlosen Plötzlichkeit eines Abbilds in einem Drehspiegel. »Die Klugheit ist nie weit vom Kopf«, sagte es zufrieden.
»Khamwas«, bat der Cirdonier und schaute sich um, »wenn Ihr finden könnt, was wir suchen, dann fangt gleich an. Ich möchte wirklich nicht länger hierbleiben, als unbedingt nötig.«
»Schau doch, Oheim!« krähte Stern, als sie zum Schreibtisch hopste. »Mamis Schatulle!«
An Samlors Schnelligkeit und Reflexen war nach seiner Anstrengung nichts auszusetzen, aber sein Verstand ließ zu wünschen übrig. Er wollte den Schreibtisch vor Stern erreichen, aber seine Stiefelsohlen rutschten auf dem nassen Marmor aus. Weil er unwillkürlich den langen Dolch aus seinem Gürtel gezogen hatte, blieb ihm nur seine Linke, mit der er seinen Sturz abfangen konnte. Durch die Heftigkeit des Aufpralls prickelte sein Handrücken, und der Handteller brannte.
Khamwas hatte seinen Stab wieder an sich genommen. Er hörte auf, murmelnd auf ihn einzureden, als der Cirdonier mit solcher Wucht auf dem Boden landete, daß die losen Gitterstäbe losrollten und klirrend gegeneinanderschlugen. »Seid Ihr.?«, begann er und streckte dem auf dem Boden Liegenden hilfreich die Hand entgegen.
»Siehst du, Onkel Samlor«, sagte das Kind, das mit einer Elfenbeinschatulle in den Händen zum Karawanenmeister zurückkehrte, »es hat Mamis Zeichen!«
»Nein«, antwortete Samlor dem Napataner ruhig, »macht weiter.« Er spürte, wie Verlegenheit sein Gesicht rötete. »Sucht die Stele, die Ihr studieren wollt, und dann sehen wir nach, was Stern hier hat.«
Er nahm dem Kind die Schatulle ab, sobald er sie mit seinen tauben Fingern zu halten vermochte. Selbst wenn es nur war, wonach es aussah - ein Kästchen zur Aufbewahrung von vielleicht zwei Armreifen -, mochte es sich doch als außerordentlich gefährlich erweisen.
Khamwas’ Gesicht verriet die Besorgnis, die wohl jeder unter diesen Umständen verspüren würde, aber er nahm seine Meditation - oder seine Gebete - wieder auf, wozu auch immer er den Stab benutzte.
Sterns handtellergroße Lichtkreaturen setzten ihre Streife durch das Gemach fort, das offenbar ein großes Studierzimmer war. Links der Tür stand ein Diwan und rechts der Schreibtisch mit einem Sessel, dessen Polster den gleichen Bezugsstoff wie der Diwan hatte. Eine dreidochtige Öllampe hing von einem abgewinkelten Holzarm, der am Schreibtisch befestigt war. Sie würde ein gutes Licht geben. Samlor zündete sie mit dem bronzefarbenen Feuerkolben in seinem Beutel an.
»Sie hat kein Öl, Onkel Samlor«, sagte Stern mit der Befriedigung eines Kindes, das sich besser auskennt als ein Erwachsener. Sie formte mit den Händen wieder eine Schale und füllte sie mit goldenem Glühen. Die Lichtgeschöpfe, die immer noch im Gemach herumschwebten, erblaßten im Vergleich. »Siehst du?«
Die Lampenschale war leer, von einem glänzenden Fleck in der Mitte abgesehen, der sich jedoch außer Reichweite der Dochte befand. Nur einer der drei Dochte war bei der letzten Benutzung der Lampe angezündet worden. Als die Flamme das Öl verzehrte, hatte es die gedrehten Baumwollfäden zu Asche verbrannt. Die beiden anderen Dochte waren deutlich in Schwarz und Weiß getrennt und bereit zu brennen, sobald das Öl nachgefüllt war.
Setios hatte sein Haus offenbar in großer Eile verlassen.
»Gut, Schatz, halt das Licht weiter so«, sagte Samlor so ruhig zu seiner Nichte, als bäte er sie am Tisch, ihm das Brot zu reichen. Die Schatulle gehörte nicht zu den Dingen, an die der Cirdonier sich aus seiner Jugend erinnerte, aber das Familienwapppen - der geflügelte Drache des Hauses derer von Kodrix -
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