Im Herzen Des Lichts
wie ihre Eltern.
»Du bist dran!«
»Und daß du ja nicht guckst!«
Das gerufene Kind, das jüngere beysibische Mädchen, löste sich widerwillig aus der Gruppe. Arme und Beine der Kleinen, die weit aus der feinen, aber schmutzigen und formlosen Tunika ragten, waren noch fleischig vom Babyspeck, und ihr Gang war breitbeinig und plattfüßig wie bei einem Kleinkind. Sie verzog weinerlich das Gesicht, als sich die Entfernung zwischen ihr und ihren Spielgefährten vergrößerte. Bisher hatte noch keines der Kinder Illyra bemerkt, die still auf der Bank saß.
Die Kleine straffte die Schultern und hielt die Hände vor die Augen.
»Laut! Du mußt laut zählen, Cha-bos!« rief die etwas ältere Beysiberin.
»Eins - zwei - d-drei.«
Bei vier waren die anderen Kinder bereits verschwunden, und man hörte ihr Kichern und Schreien, bis sie sich in das Labyrinth von Gemächern und Korridoren ihres Zuhauses zurückgezogen hatten. Die kleine Cha-bos lauschte, und als sie nichts mehr hörte, nahm sie die Hände vom tränenverschmierten Gesichtchen. Jetzt erst bemerkte sie Illyra.
Die Haut, welche die Exilgemeinde von den Ureinwohnern dieses Erdteils unterschied, schnellte über die bernsteinfarbenen Augen des Kindes, und es starrte. Unwillkürlich fuhr Illyra zusammen. Aber Cha-bos schien es nicht zu bemerken - oder sie war bereits imstande, ihre Reaktionen zu verbergen.
»Ich kann nicht bis hundert zählen«, sagte sie, überzeugt, daß das alles erklärte. Und Illyra stellte fest, daß Beysiber weinen konnten, während sie starrten.
»Ich auch nicht«, gestand Illyra - nicht, daß sich für sie je die Notwendigkeit ergeben hätte, so vieles zu zählen.
Cha-bos blickte sie niedergeschlagen an. Was nutzte eine Erwachsene, wenn sie nicht mehr wußte als sie selbst? »Es macht nichts«, erklärte sie sich und Illyra. »Sie wollen sowieso nicht mit mir spielen.«
Von diesen großen, starren Augen angezogen, zeigte ihr S’danzoblick Illyra, daß das stimmte. Die größeren Kinder machten bei diesem einfachen Spiel gar nicht mehr mit, sondern waren bereits dabei, etwas Abenteuerlicheres auszuhecken.
»Das tut mir leid. Du wirst bald genug größer werden.«
»Aber sie nie kleiner.«
Illyra wand sich innerlich, sie wollte sich aus den tiefen Augen des Kindes befreien. Sie verstand nun, weshalb sich die anderen S’danzofrauen mit der Gabe gewöhnlich in der Nähe ihrer Familie aufhielten - wo die Vertrautheit, wenn nicht die Liebe, den Fluch der Sicht bannte.
Illyra wollte vor allem nicht wissen, daß Cha-bos kein gewöhnliches Kind war, sondern die Tochter der Beysa Shupansea und ihr Blut bereits mit wirksamem Gift vermischt war.
»Du kannst keine Freundinnen haben, nicht wahr?« platzte sie heraus.
Cha-bos wurde ernst und schüttelte das Köpfchen ganz langsam, aber die Haut über dem Auge sprang zurück, und sie blinzelte. »Vanda. Sie paßt auf mich auf.«
Vanda war ein Name, den Illyra von früher kannte. Sie war eine junge Ilsigerin, die es geschafft hatte, Kindermädchen der vielsprachigen Schar in der Kinderstube des Palasts zu werden. Illyra hatte sie nicht mehr gesehen, seit Arton fortgesandt worden war, und sie hatte angenommen, daß das Mädchen in die Stadt zurückgekehrt war.
»Ist Vanda noch hier?«
»Natürlich. Ich brauche sie.«
Cha-bos Vertrauen zu Vanda war so stark wie ihre Überzeugung, daß die Welt ausschließlich für ihre Bedürfnisse da war. Sie war bereit, Illyra durch das Labyrinth des Palastes zu einem Raum zu führen, der nach seinem chaotischen Zustand und der Größe der Betten nur die Kinderstube sein konnte.
Vanda saß mit Nadel und Faden zwischen Haufen ramponierter Kinderkleidung. Ihr Gesicht leuchtete in ehrlicher Freude auf, als Cha-bos rufend auf sie zukam, wurde jedoch kühl, als sie Illyra sah.
»Es ist lange her«, stellte sie fest. Sie streifte die Flickarbeit vom Schoß und verbeugte sich, wie es zur Begrüßung der Mutter eines potentiellen Gottes schicklich war. »Geht es Euch gut?«
Illyra nickte und wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie fragte sich, was sie von diesem Besuch eigentlich erhofft hatte. »Den Umständen entsprechend«, stammelte sie höflich.
Der Umgang mit Kindern hatte Vanda ein wenig ihrer Direktheit bewahrt. »Was führt Euch her?« Sie nahm ihre Flickarbeit wieder auf.
Erinnerungen wirbelten durch Illyras Kopf. Vanda war die Tochter von Gilla und dem Maler Lalo. Gilla hatte ihre Kinder zu Erwachsenen heranreifen sehen und hatte zur selben
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