Im Herzen Des Lichts
einen Blick zurück, im Gedränge des Markttags.
Es gab etwa zwei Dutzend S’danzo in Freistatt, die kleinen Mädchen mitgerechnet. Die Männer und Kinder konnten sich unbemerkt in der ganzen Stadt bewegen, besonders, da sie zur Baustelle des Reiches geworden war und jeden Tag Fremde eintrafen. Aber die Frauen, die Seherinnen, die echten wie die falschen, schlugen Wurzeln im Basar und verließen ihn nur selten. Illyra erkannte viele Gesichter, an denen sie vorbeikam, doch niemand erkannte sie. So frei sie sich fühlte, war sie doch auch sehr allein und wurde kleiner mit jedem Schritt, den sie sich weiter vom Basar und der Schmiede entfernte.
Sie war fast unsichtbar, als sie das Haupttor des Palasts erreichte. Sie war hier bekannt - und wurde erkannt - durch die vielen Male, die sie ihren Sohn besucht hatte, als er mit dem Gottkind Gyskouras in der Kinderstube des Palasts gehegt und gepflegt worden war. Aus demselben Grund wurde sie auch nicht gegrüßt, als sie die inneren Korridore betrat.
Hier waren andere, die sie kannten. Sie murmelten mit abgewandtem Blick einen Gruß und beschleunigten den Schritt, um sich so rasch wie möglich von ihr zu entfernen. Es war vielleicht eine große Ehre, die Mutter eines kleinen Gottes zu sein. Der Mutter des anderen Kindes, eine ehemalige Sklavin und Tänzerin, mangelte es nicht an Dienerschaft, Gemächern und Geschmeide. Aber eine solche Mutterschaft regte nicht zu weltlicher Freundschaft an. Tatsächlich hätte Seylalha mit ihrer Anmut und Schönheit auch ohne Gyskouras’ Hilfe ein luxuriöses Zuhause gefunden. Und Illyra, der sich halb Freistatt anvertraute, hatte nie Freunde gehabt.
Von Dubro und Walegrin abgesehen, deren Verbindung zu ihr mehr als Freundschaft war, gab es nur einen, dem Illyra ihr Herz öffnen konnte: Molin Fackelhalter. Und es war schon ein trauriger Zustand, wenn eine gottlose S’danzo Rat bei einem rankanischen Priester suchte.
In diesem Augenblick jedoch trug Illyra ihre Einsamkeit wie eine Rüstung. Sie schritt an der Treppe vorbei, die sie zu Molins überfüllten Gemächern gebracht hätte. Sie hatte ihr Ziel deutlich vor Augen: ein Garten, dessen Mauern den Wind fernhielten, der Sonne jedoch unbehindert Zugang gewährten. Ein Ort, an dem es gewiß selbst zu dieser Jahreszeit Blumen gab.
Der kleine Garten war leer - seit beachtlicher Zeit verlassen und Wildkräutern preisgegeben. Zwei robuste Rosen hatten noch frostgezeichnete Blüten, die ihren letzten Duft verströmten. Davon abgesehen gab es nur noch vereinzelte gelbe Blumen, einige hauchfeine weiße Blüten und, in der geschütztesten Ecke, ein kleines Beet mit feurigen Dämonenaugen. Illyra war froh, daß sie dagegen nicht allergisch war. Sie sammelte einen Armvoll der Blumen, setzte sich damit auf eine sonnenbeschienene, steinerne Bank und machte sich daran, eine Girlande zu flechten.
Sie hatte Blumenbinden durch eine Vision gelernt. Ihre Mutter hatte es sie ganz sicher nie gelehrt, genausowenig Dubro oder Mondblume, die ihr alles gesagt hatte, was sie über Frauen und ihre Gabe wissen mußte. Sie hatte auch noch anderes gelernt: einige Lieder und Gedichte, so allerlei über das Lieben und ein paar nützliche Tricks, wenn es ums Töten mit Messer oder Schwert ging. Sie wußte zu viel für nur eine Person - und sie hatte Lillis unter anderem auch deshalb so geliebt, weil sie sich danach gesehnt hatte, ihr Wissen mit jemandem zu teilen, der verstehen würde.
Trevya könnte es nie verstehen.
Die Sonne wärmte Illyras Schultern und lockerte die Verkrampfungen, die sie seit jenem Spätwintertag hatte, als sie zum letzten Mal eine lebende Tochter aus eigenem Fleisch und Blut in den Armen gehalten hatte. Illyra hob das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne und stellte sich eine alterslose Lillis vor: Kind, Frau und Freundin. Sie nahm die Vision, die sie vor dem Morgengrauen gehabt hatte, und veränderte sie, bis das Kind ihre eigene Tochter war, und sie ihr Lachen und dieses eine Wort - Mutter, Mutter, Mutter - deutlich hören konnte.
Aber das Lachen, wie Illyra nach einem glücklichen Augenblick bewußt wurde, war wirklich, es erschallte in dem mauerumgebenen Gärtchen, nicht in ihrer Vorstellung. Sie öffnete die Augen und blickte auf die Schar Kinder, die in ihre Zuflucht eingedrungen waren und zu spielen begannen. Sie kannte keines von ihren früheren Besuchen in der Kinderstube des Palasts, sie bemerkte jedoch, daß zwei Beysiber waren, beides Mädchen und vermutlich Immigranten
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