Im Herzen Rein
noch verschiedene Möglichkeiten durch, bis sie erschöpft in den Schlaf sank.
21
Es war schon sehr spät, als Chris von Paula in der Nacht zuvor zu Hause abgesetzt worden war. Paula hatte ihr angeboten, noch mit hinaufzukommen, aber das wollte Chris ihr nicht zumuten. Sie waren beide müde.
Kaum war Paula losgefahren, hatte Chris das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie durch den Vorgarten ging, hörte sie es hinter den Fliederbüschen rascheln, als würde ihr jemand auflauern. Sie meinte sogar, ihn atmen zu hören, und wollte schreien: Lass mich, verschwinde! Aber sie konnte ihre Lippen nicht bewegen. Auch die Beine waren steif, und sie musste sich zwingen, Schritt für Schritt auf die Haustür zuzugehen. Zitternd schob sie den Schlüssel ins Schloss und versuchte, schnell ins Haus zu kommen. Sie wollte nicht sterben. Als sie es geschafft hatte, warf sie sich mit ihrem Körper von innen gegen die Haustür. Sie musste Atem schöpfen, dann zog sie sich die Treppe hinauf.
In den frühen Morgenstunden war sie aufgewacht, weil sie im Traum ohne Fallschirm aus dem Flugzeug fiel und der Wind ihr die Augen aufriss. Sie hatte sich die Bettdecke gegen das Gesicht gepresst, doch der Schlaf ließ sich nicht zurückholen. Genauso wenig wie ihr altes Leben, das für sie das eigentliche Leben war, nicht dieses bedrohliche, in dem sie sich jetzt befand und in dem sie sich verraten und ausgeliefert fühlte. Sehnsüchtig dachte sie daran, wie glücklich sie vorher gewesen war. Sie hatte viel gelacht, war erfolgreich und gesegnet mit allem, was die Welt zu vergeben hatte - wie ihr Vater immer sagte.
Es war ein grundlegender Unterschied, ob man irgendwo im Einsatz mit einer Leiche konfrontiert wurde, wie Paula das immer wieder erlebte, oder ob man kurz zuvor selbst in genau derselben Situation gewesen war, so wie sie auf der Parkbank oder im Kino. Paula begriff das anscheinend nicht. Chris erinnerte sich, dass sie in Griechenland einmal einen Freund vom Flugzeug abgeholt hatte, der sie fröhlich begrüßte. Als er dann erfuhr, dass die vorherige Maschine, auf die er eigentlich gebucht war und die er nur verpasst hatte, abgestürzt war, wurde er kreidebleich, Todesangst überkam ihn, und er musste sich übergeben. Und sie hatte auf derselben Bank und demselben Kinoplatz gesessen, nur zu einer anderen Zeit.
Sie setzte sich aufrecht hin und forderte ihren Verstand heraus. Sie verdankte ihren Aufruhr keiner unfassbaren Macht, sondern nur einem einzigen Menschen. Sie musste diesen Menschen finden und zur Strecke bringen.
Wieder sah sie den Jogger auf sich zukommen und hörte seine Anspielungen, mit denen er sich regelrecht als Mörder von Silvia Arndt präsentiert hatte. Würde er das jetzt bei der zweiten Toten wiederholen?
Heiliger, Josef Heiliger: Sie zermalmte seinen Namen regelrecht zwischen den Zähnen. Paula hatte vorgeschlagen, seine DNA mit den Haaren an der Kappe zu vergleichen, die sie im Auto gefunden hatten. Natürlich gab es dafür keinen Gerichtsbeschluss. Und die Verbindung zwischen der Präsentation der Leichen und Heiligers Installationen würde Richter Bülow vielleicht sehen, aber es war kein hinreichender Tatverdacht, um eine Blutentnahme anzuordnen. Ihm ging es ja auch nicht an den Kragen!
Chris stand auf, um Badewasser einzulassen. Sie musste diesen Namen abwaschen, wegspülen, neutralisieren. Das hatte sie sogar mit achtzehn schon einmal geschafft. Damals war sie schrecklich verliebt gewesen in einen Mann, der mit einer anderen schlief. Sie hatte gegen ihr Gefühl angehen müssen und so lange geübt, bis er ihr gleichgültig geworden war, bis sein Name nur noch aus fünf bedeutungslosen Silben bestanden hatte. Eine Leistung, auf die sie stolz war. Aber dieser Mann hier war mit einem Mord in ihr Leben eingebrochen. Vor vier Tagen - vor einer Ewigkeit - war ihr Leben noch in Ordnung gewesen. Da hatte sie sogar überlegt, ob sie wieder mit Tennis anfangen sollte. Das war ihr Problem gewesen - ob sie Tennis spielen oder einen Spanisch-Kurs machen sollte. Würde sie jemals wieder dorthin zurückgelangen?
Mit einem Vollbad wollte sie sich beruhigen. Sie nahm ihren Lieblingsbadeschaum Magnolie und mischte das Wasser so, dass es nicht zu heiß war, damit es sie nicht erschöpfte. Sie saß im Schaumbad und versuchte, sich bewusst zu machen, in welch angenehmer Situation sie eigentlich lebte.
Warum sollte sich das ändern? Wer würde das wollen? Wer könnte ein Interesse daran haben?
Ihre Eltern waren
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