Im Herzen Rein
Samstagmittag zu Besuch gekommen und wollten bis Sonntag bleiben. Das hatte sie aber abgelehnt. Sie brauchte den Tag, um sich zu stabilisieren. Und sie hatte es geschafft. Bis Paulas Anruf kam, abends um halb elf.
Morgens war sie lange im Bett geblieben und dann zum ersten Mal ins Spa im Hotel Intercontinental gegangen, dem schönsten in Berlin. Das hatte sie sich gegönnt, mit Massage, Sauna und Kosmetik, um ihre Seele zu streicheln. Und abends war sie wieder in ihr Buch versunken, das sie schon im Spa begonnen hatte: Der Teufel trägt Prada , typische Frauenliteratur - komisch und sarkastisch: die Geschichte einer ehrgeizigen Aufsteigerin, die dem Stress schließlich nicht mehr standhält, dafür aber Mr. Right trifft. Solche Frauenromane las sie sonst nicht, auch nicht, wenn sie Weltbestseller waren. Aber sie wollte sich unbedingt ablenken, am besten mit etwas, was sie sonst nie tat. Als sie sich eingelesen hatte, tauchte sie tatsächlich in die Geschichte ein und las sich fest.
Da hatte das Telefon geklingelt und sie aus dem New Yorker Lifestyle zurückgeholt in die Schattenwelt ihrer Ängste.
»Es ist wieder eine Frau umgebracht worden. Genauso wie beim vorigen Fall«, waren Paulas Worte, und die Erwartung einer neuen Attacke hatte sich in ihr ausgebreitet. Sie hatte ihre Füße in die Schuhe gezwängt und war losgerannt. Auf der Treppe hatte sie sich gesagt, hetz dich nicht, eine Leiche kann nicht weglaufen, aber sie konnte über ihren Witz nicht einmal lächeln.
Sie nahm ein Taxi und ließ sich fünfzig Meter vor dem Kino absetzen. Es hatte sich schon ein Pulk von Neugierigen gebildet, und die Polizei regelte den Verkehr auf dem Kurfürstendamm. Würde er auch wieder da sein?
Langsam und umständlich schob sie sich durch die Menschen und blickte sich um. Sie wollte ihn auf jeden Fall entdecken, falls er alles beobachten würde. Ausgerechnet Paula vereitelte ihr Vorhaben. Sie hatte sie kommen sehen und zwei Polizisten angewiesen, ihr eine Gasse zu bahnen.
Schon nach einer knappen Erklärung von Paula hatte sie begriffen, was los war, und wollte sofort zu der Toten gehen. Aber zuerst musste sie noch den Schutzanzug überziehen.
Als sie den hell erleuchteten Kinosaal betrat, sah sie genau das, was sie befürchtet hatte. Die Tote saß auf dem Platz, auf dem sie nach der Heiliger-Vernissage auch gesessen hatte.
Wie eine Marionette ging sie Schritt für Schritt den Gang hinunter zu der Toten. Eisig breitete sich Angst in ihrem Körper aus. Sie musste die Tote so angestarrt haben, dass Paula sie fragte, ob sie sie kenne. Nur eine Frage beherrschte sie: Warum sitzt sie denn genauso da, wie ich gesessen habe?
Sie musste Paula sonderbar vorgekommen sein, denn sie hatte plötzlich etwas ganz anderes gefragt: was sie mit ihren Eltern unternommen habe. Paula ging dann weg. Aber sie konnte sich nicht vom Fleck rühren und war stehen geblieben, bis sie die Leiche forttrugen.
Sie war erst wieder zu sich gekommen, als Paula ihr erzählte, dass der Täter eine getönte Brille, eine Baseball-Kappe und einen Parka getragen hatte. Und es gab Spuren, sogar DNA-Spuren. Und sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass man Heiliger jetzt überführen würde. Sie war jetzt überzeugt davon, dass er der Täter war. Nur er konnte wissen, dass sie im Kino war und auf diesem Platz gesessen hatte. Sie saß sonst nie am Rand und zog auch nie die Schuhe aus. Aber ihre Füße hatten wehgetan, nachdem sie auf der Vernissage so lange gestanden hatte.
Um das innere Zittern zu überwinden, das sie beim Anblick der Leiche überfallen hatte, ging sie dann bewusst in die Flucht nach vorn. Sie sagte den Journalisten vorm Kino, dass sie den Täter in achtundvierzig Stunden gefasst haben würden. Und sie hatte es in dem Moment auch glauben wollen. Im Fahrstuhl hatte Paula gelacht. Natürlich hatte sie darüber gelacht, worüber sonst? Später hatte sie Paula gesagt, dass nur Heiliger sie verfolgt haben konnte. Natürlich hatte sie Heiliger nicht gesehen, es war ja auch nicht so schwierig, jemanden zu beobachten und dabei unentdeckt zu bleiben. Paula war nicht einmal bereit, mit ihr zusammen einen Vorwand zu erfinden, um für Heiliger einen Beschluss zur Blutentnahme zu kriegen. Und ohne Paulas Rückendeckung konnte sie das nicht riskieren. Jedenfalls nicht, ohne ihre persönlichen Gründe aufzudecken. Und das schied aus. Sie würde sich nicht als eine von einem Wahnsinnigen Verfolgte outen. Hier ging es um sie persönlich, die Verantwortung
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