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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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sie sie untereinander aus, nach Art von Leihbüchereien.
    In der Nacht, bevor wir früh nach Kent aufbrachen, entschloß ich mich, in einem Bett zu schlafen, und ging zu einer
    Unterkunft in der Sout hwark Bridge Road. Das ist dort eine Art Sevenpence-Schlafstelle, eine der wenigen, die es noch in
    London gibt, und danach ist sie auch. Die Betten sind fünf Fuß lang, ohne Kissen (man legt sich sein zusammengerolltes Jackett unter den Kopf), und voller Flöhe, neben einigen Wanzen. Die Küche ist ein kleiner, stinkender Kellerraum, in dem ein Mann
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    an einem Tisch sitzt und Marmeladenschnitten verkauft, die voller Fliegen sind, alles ein paar Schritte von der Aborttür entfernt. Die Ratten sind eine solche Plage, daß sie mehrere Katzen halten müssen, ausschließlich ihretwegen. Die Schläfer waren Dockarbeiter, soviel ich weiß, gar keine üblen Burschen.
    Ein jüngerer war darunter, blaß und schwindsüchtig aussehend, aber offenbar ein Arbeiter, der für Gedichte schwärmte. Er wiederholte zum Beispiel immer wieder:

    A voice so thrilling ne'er was 'card In April from the cuckoo bird, Briking the silence of the seas Beyond the furthest
    'Ebrides.

    [Ein so durchdringender Ruf ist noch nie im April vom
    Kuckuck gehört worden, er bricht das Schweigen des Meeres bis über die fernsten Hebriden hinaus.]
    Er trug es mit echtem Gefühl vor. Er wurde kaum ausgelacht.

    28. August
    Am Nachmittag des nächsten Tages setzten sich vier von uns zu den Hopfenfeldern in Marsch. Der interessanteste von ihnen war ein junger Mann namens Ginger, der in dem Augenblick,
    wo ich dieses niederschreibe, noch immer mit mir befreundet ist.
    Es ist ein starker, athletischer Bursche, sechsundzwanzig Jahre alt, beinahe Analphabet und grenzenlos dumm, aber von
    geradezu tollkühner Verwegenheit. Vermutlich hat er jeden Tag während der letzten Jahre etwas Gesetzwidriges begangen, wenn er nicht im Gefängnis saß. Als Junge hat er drei Jahre im Borstal gesessen, kam heraus, heiratete mit achtzehn auf Grund eines erfolgreichen Einbruchs, und trat bald darauf als Artillerist in die Armee ein. Seine Frau starb, kurze Zeit später erlitt er durch einen Unfall eine Verletzung am linken Auge und wurde als
    Invalide aus der Armee entlassen. Man bot ihm eine Rente oder
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    eine einmalige Abfindung an, und natürlich wählte er die
    Abfindung, um sie innerhalb einer Woche zu verjubeln. Danach wandte er sich wieder dem Einbruch zu, kam sechsmal ins
    Gefängnis, aber nie für lange, da sie ihn immer nur bei kleineren Einbrüchen erwischten. Ein- oder zweimal gelang ihm ein
    größeres Ding, was ihm jedesmal über fünfhundert Pfund
    einbrachte. Zu mir als seinem Partner beim Hopfenpflücken war er vollkommen ehrlich. Aber für gewöhnlich stiehlt er alles, was nicht angebunden ist. Ich bezweifle, ob er auf die Dauer viel Erfolg als Einbrecher haben wird, weil er zu dämlich ist, um das Risiko richtig einzuschätzen. Es ist schade um ihn, denn er könnte auch anständig leben, auf ehrliche Art, wenn er wollte.
    Er hat eine ausgesprochene Begabung für den Straßenhandel
    und hat unzählige kleine Kommissionsgeschäfte getätigt, aber wenn er einen guten Tag erwischt, macht er sich gleich mit den Einnahmen davon. Dazu kommt ein unglaubliches Geschick,
    Gelegenheitsgeschäfte aufzuspüren. Er ist imstande, jeden
    Metzger zu überreden, ihm ein Pfund gutes Fleisch für 2 p. zu verkaufen, aber im übrigen ist er in bezug auf Geld ein völliger Idiot, der nie auch nur einen halben Penny sparen wird. Er hat eine hübsche Stimme und singt Liedchen, wie »das kleine graue Haus im Westernstil«, und von seiner toten Frau und seiner Mutter spricht er in einem klebrig sentimentalen Ton. Er ist meiner Meinung nach der typische Schmalspurverbrecher.
    Von den beiden ändern war einer ein zwanzigjähriger Bursche namens Young Ginger, der ganz annehmbar zu sein schien. Er war Waise und ohne jede Erziehung aufgewachsen und hatte das letzte Jahr fast ausschließlich auf Trafalgar Square gelebt. Der andere war ein kleiner Jude aus Liverpool, achtzehn Jahre alt.
    Ich weiß nicht, ob mir jemals ein Mensch begegnet ist, der mich mehr angeekelt hat als dieser Junge. Er war freßgierig wie ein Schwein, durchwühlte unausgesetzt die Mülltonnen und hatte ein Gesicht, das mich an irgendein niedriges aasfressendes Tier erinnerte. Seine Art über Frauen zu sprechen und sein
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    Gesichtsausdruck dabei waren von so ekelhafter Obszönität, daß mir fast übel wurde.

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