Im Innern des Wals
wandte sich, wie ich bemerkte, ein
hochgewachsener junger Bursche nach mir um. Aber der Blick, der mich traf, war gänzlich anders, als man hätte erwarten können, weder feindselig noch verächtlich oder stumpf, ja nicht einmal forschend. Es war der scheue, großäugige Negerblick, im Grunde ein Blick tiefsten Respekts. Ich begriff. Dieser
bedauernswerte Bursche, der französischer Staatsbürger war und aus dem Urwald verschleppt worden war, um in Garnisonen
Fußböden zu scheuern und sich die Syphilis zu holen, hatte tatsächlich die größte Ehrfurcht vor einer weißen Haut. Man hatte ihm eingetrichtert, die Weißen seien seine Herren, und er glaubte es heute noch.
Aber jedem Weißen drängt sich ein Gedanke auf (und es
kommt nic ht drauf an, ob er sich selbst als Sozialist bezeichnet), jeder Weiße denkt bei sich, wenn er eine schwarze Truppe
vorbeiziehen sieht: wie lange können wir diese Völker noch an der Nase herumführen? Wie lange noch, bis sie die Kanonen
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umdrehen?
Es ist wirklich sonderbar. Jeder weiße Mann trägt diese und ähnliche Gedanken heimlich mit sich herum. Und wie mir, ging es auch den anderen Zuschauern, es ging den Offizieren so auf ihren schweißbedeckten Gäulen und den weißen
Unteroffizieren, die neben der Truppe marschierten. Es war eine Art Geheimnis, das wir alle kannten, aber für uns behielten, weil wir klug genug waren, nicht darüber zu sprechen. Nur die Neger kannten es nicht. Man hatte wirklich den Eindruck einer Herde, als die Kolonnen, eine oder zwei Meilen lang, geduldig die Straße aufwärts zogen, während die großen, weißen Vögel über ihnen in die entgegengesetzte Richtung flogen, wie verwehte, glitzernde Papierstückchen.
New Writing, Weihnachten 1939
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Im Innern des Wals
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Als 1935 Henry Millers Roman Wendekreis des Krebses
erschien, wurde er anerkennend, aber doch mit einiger
Zurückhaltung aufgenommen, in einigen Fällen offensichtlich deshalb, weil sich niemand gern dem Verdacht aussetzt,
Pornographie schön zu finden. Unter denen, die ihn lobten, waren T. S. Eliot, Herbert Read, Aldous Huxley, John Dos Passos und Ezra Pound - alles in allem nicht gerade
Schriftsteller, die zur Zeit in Mode sind. In der Tat gehört das Buch, sowohl dem Stoff wie bis zu einem gewissen Grad seiner geistigen Atmosphäre nach, mehr zu den zwanziger als den
dreißiger Jahren.
Wendekreis des Krebses ist ein Roman in »Ich«-Form oder eine romanhafte Autobiographie, je nachdem, wie man es lieber sieht. Miller selbst besteht darauf, daß es rein autobiographisch ist, aber das Tempo und die Methode des Erzählens ordnen das Buch dem Roman zu. Es ist die Geschichte von Amerikanern in Paris, aber nicht in der üblichen Weise, weil die Amerikaner, die darin vorkommen, durchweg Leute ohne Geld sind. In den fetten Jahren, als es Dollars im Überfluß gab und der Wechselkurs gegenüber dem Franc hoch stand, erlebte Paris eine beispiellose Invasion von Künstlern, Schriftstellern, Studenten, Dilettanten, Touristen, Lüstlingen und bloßen Nichtstuern. In einigen
Stadtvierteln muß die Zahl der sogenannten Küns tler die der arbeitenden Bevölkerung tatsächlich überstiegen haben. Man hat ausgerechnet, daß Ende der zwanziger Jahre etwa 30.000 Maler in Paris lebten, von denen die meisten wenig mit Kunst zu tun hatten. Dem kleinen Mann auf der Straße war das Künstlervolk so gleichgültig geworden, daß Lesbierinnen mit rauchigen
Stimmen in Cordhosen und junge Leute in griechischen oder
mittelalterlichen Gewändern durch die Straßen wandeln
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konnten, ohne daß jemand sich nach ihnen umdrehte. Am Seine-Ufer bei Notre Dame war es so gut wie unmöglich, sich einen Weg durch die Malstühlchen zu bahnen. Es war die Epoche der erfolgreichen Außenseiter und der verkannten Genies. Der Satz, den man am häufigsten hörte, war: »Quand je serai lancé.« Es stellte sich heraus, daß niemand »lancé« wurde. Die
Wirtschaftskrise brach herein wie eine neue Eiszeit, der
internationale Mob von Künstlern zerstob, und die großen Cafés von Montparnasse, die noch nicht ein Jahrzehnt zuvor bis in die frühen Morgenstunden von schreienden Poseurs erfüllt waren, verwandelten sich in düstere Grabgewölbe, in denen es nicht einmal mehr Geister gab.
Diese Welt, die unter anderem in dem Roman Tarr (ersch.
1918) von Wyndham Lewis beschrieben ist, schildert Henry Miller, aber er befaßt sich nur mit ihrer Unterseite, der
lumpenproletarischen Randschicht, der es
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