Im Innern des Wals
lebt,
wenigstens für Augenblicke aufzuheben. Bei der Lektüre
bestimmter Stellen im Ulysses hast du das Gefühl, daß Joyce und du ein und derselbe sind, daß er alles über dich weiß, obwohl er deinen Namen nie gehört hat, daß es irgendwo eine Welt gibt, außerhalb von Zeit und Raum, die Joyce und dich umfaßt.
Obwohl er Joyce in keiner Weise ähnelt, ist eine Spur davon auch bei Henry Miller. Nicht überall, denn sein Werk ist sehr ungleichmäßig, neigt manchmal, besonders in Schwarzer Frühling, dazu, ins bloße Wortgeklingel oder in das verschwommene Universum der Surrealisten abzugleiten. Man
lese nur fünf oder zehn Seiten von ihm, und man fühlt eine
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seltsame Erleichterung, die nicht so sehr daher rührt, daß man selbst etwas versteht, sondern daß man verstanden wird.
»Er weiß alles über mich, er hat das speziell für mich
geschrieben«, fühlt man. Es ist, als hörte man eine Stimme, die zu einem spricht, eine freundliche, amerikanische Stimme, ohne zu faseln, ohne zu moralisieren, in der Annahme, daß wir alle gleich sind. Einen Augenblick ist man allen Lügen und
Versimpelungen, den schablonenhaften Marionetten der
gewöhnlichen Roman-Literatur, selbst der einigermaßen guten, entronnen und hat mit vertrauten Erlebnissen menschlicher Wesen zu tun.
Welche Art Erlebnisse? Und welche Art von Menschen?
Miller schreibt über den Mann auf der Straße, und es ist
eigentlich schade, daß die Straße voller Bordelle ist. Das ist die Strafe dafür, daß man sein Geburtsland verlassen hat. Es
bedeutet soviel, wie in einer dünneren Bodenschicht Wurzel schlagen zu müssen. Das Exil ist wahrscheinlich für einen
Schriftsteller verderblicher als für einen Maler oder selbst einen Dichter, denn er verliert in der Folge den Kontakt mit der Welt der Arbeit und muß sich auf die Straße, das Café, die Kirche, das Bordell und sein Arbeitszimmer beschränken. Hauptsächlich handeln Millers Bücher von Leuten, die das Leben von
Emigranten führen, sich betrinken, schwatzen, nachdenken und koitieren - nicht von Menschen, die arbeiten, heiraten und Kinder aufziehen; schade, denn Miller hätte das eine genauso gut beschrieben wie das andere. In Schwarzer Frühling gibt es eine wundervolle Rückblende auf New York, dem wimmelnden,
von Iren überlaufenen New York der O.-Henry-Ära, aber die
Pariser Szenen sind die besten, und die Trunkenbolde und
Nachtbummler in den Cafés sind zwar vom sozialen Standpunkt aus völlig wertlos, dafür aber mit einem Feingefühl für
Charaktere und einer technischen Meisterschaft geschrieben, die in keinem der kürzlich erschienenen Romane auch nur
annähernd erreicht werden. Seine Figuren sind nicht nur
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glaubhaft, sie sind vertraut, man hat das Gefühl, daß man alle ihre Abenteuer selbst erlebt hat. Nicht daß sie als Abenteuer besonders aufregend wären, Henry bekommt einen Job bei
einem melancholischen indischen Studenten. Er bekommt einen andern Job in einer gräßlichen französischen Schule während eines Kälteeinbruchs, bei dem alle Toiletten zugefroren sind, nimmt teil an einer Sauferei in Le Havre mit seinem Freund Collins, einem Kapitän zur See, besucht ein Bordell, wo es wundervolle Negerinnen gibt, diskutiert mit seinem Freund, einem Schriftsteller Van Norden, der den größten Roman aller Zeiten in seinem Kopf mit sich herumträgt, aber sich nie
entschließen kann, ihn anzufangen. Sein Freund Karl, dicht vor dem Verhungern, wird von einer reichen Witwe aufgegabelt, die ihn heiraten will. Es folgen endlose hamletische Gespräche, bei denen Karl die Frage zu beantworten sucht, was schlimmer ist, zu hungern oder mit einer alten Frau zu schlafen. Bis ins
kleinste Detail beschreibt er seine Besuche bei der Witwe, wie er sie in seinem besten Anzug aufsucht, jedoch vergessen hat, vorher zu urinieren, so daß er den ganzen Abend Höllenqualen aussteht etc. etc. Zum Schluß stellt sich heraus, daß alles nicht stimmt, die Witwe existiert nicht einmal, Karl hat sie einfach erfunden, um sich interessant zu machen. Auf dieser Linie liegt mehr oder weniger das ganze Buch. Was ist nun eigentlich der Grund, warum faszinieren einen diese monströsen Trivalitäten?
Sehr einfach - weil man die ganze Atmosphäre so gründlich kennt und das Gefühl hat, daß diese Dinge einem selbst
begegnen. Man hat dieses Gefühl, weil sich einer entschlossen hat,
mit der geschraubten Ausdrucksweise des
Durchschnittsromans aufzuräumen und die wirklichen
Triebkräfte
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