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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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menschlichen Denkens und Handelns bloßzulegen.
    Im Fall Miller geht es nicht so sehr darum, den Mechanismus des menschlichen Geistes zu durchforschen, als sich vielmehr zu den alltäglichen Dingen und Gefühlen zu bekennen. Die
    Wahrheit ist nämlich, daß viele durchschnittliche Menschen,
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    vielleicht sogar die Mehrheit, genauso sprechen und sich in derselben Weise benehmen, wie er sie hier aufgezeichnet hat.
    Der ordinäre Ton, in dem die Menschen im Wendekreis des Krebses sprechen, findet sich in den Romanen nur selten, im gewöhnlichen Leben dagegen sehr oft. Ich selbst habe ähnliche Unterhaltungen immer und immer wieder zwischen Leuten
    gehört, die nicht einmal me rkten, wie ordinär sie sprachen.
    Bemerkenswert, daß Wendekreis des Krebses nicht das Werk eines jungen Mannes ist. Miller hatte die Vierzig bereits
    überschritten, als es herauskam, und obwohl er seitdem drei oder vier weitere Bücher veröffentlicht hat, steht außer Zweifel, daß das erste, das er jahrelang mit sich herumgetragen hat, auch sein bestes Buch ist. Es gehört zu den Büchern, die langsam
    herangereift sind, in Armut und von unbekannten Leuten
    geschrieben, die wissen, was sie vorhaben und daher warten können. Die Prosa ist erstaunlich, in Schwarzer Frühling teilweise sogar noch besser. Leider kann ich nichts zitieren, es wimmelt von nicht wiederzugebenden Wörtern. Man besorge
    sich Wendekreis des Krebses, man besorge sich Schwarzer Frühling und lese besonders die ersten hundert Seiten. Sie vermitteln einem eine Vorstellung von dem, was man selbst
    heute noch mit der englischen Sprache anfangen kann. Englisch wird darin als lebende Sprache gesprochen, ohne Furcht, das heißt, ohne Furcht vor Rhetorik oder vor ungewöhnlichen oder poetischen Wörtern. Nach Jahren der Verbannung ist das
    Adjektiv zurückgekehrt. Es ist eine fließende, wogende Prosa, eine Prosa, die Rhythmus hat, etwas gänzlich anderes als die flachen vorsichtigen Aussagen und das Snack- Bar-Geplapper, das im Moment modern ist.
    Wenn ein Buch wie Wendekreis des Krebses erscheint, fällt natürlich als erstes seine Obszönität auf. Nimmt man unsere Vorstellungen von Sitte und Anstand in der Literatur als
    gegeben, dann ist es nicht einfach, vorbehaltlos zu einem so obszönen Buch Stellung zu nehmen. Entweder ist man
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    schockiert und angewidert, oder man verschlingt es gierig, oder man ist entschlossen, sich nicht beeindrucken zu lassen.
    Letzteres dürfte vermutlich die Reaktion der meisten sein, mit dem Ergebnis, daß verbotene Bücher oft weniger Beachtung
    finden, als sie verdienen. Man hört vielfach die Meinung, nichts sei leichter, als ein obszönes Buch zu schreiben, und daß sie nur deshalb geschrieben werden, um Aufsehen zu erregen und Geld zu machen etc. etc. Ganz offensichtlich ist das nicht der Fall, und zwar deshalb, weil Bücher, die vom Standpunkt des
    Staatsanwalts aus obszön sind, nur selten erscheinen. Wenn es so einfach wäre, mit unanständigen Wörtern Geld zu verdienen, so würden es mehr Schriftsteller tun. Aber da es gar nicht so viele »obszöne« Bücher gibt, ist man geneigt, sie in völlig unberechtigter Weise alle in einen Topf zu werfen. Wendekreis des Krebses ist mit zwei anderen Büchern in eine vage Verbindung gebracht worden, Ulysses und Voyage au Bout de la Nuit (Reise ans Ende der Nacht von L. F. Celine [Destouches], ersch. 1932) , aber in keinem der beiden Fälle besteht viel Ähnlichkeit. Was Miller mit Joyce gemeinsam hat, ist die
    Bereitschaft, die leeren, häßlichen Umstände des Alltags zu zeigen. Läßt man die Verschiedenheit der Technik beiseite, so würde zum Beispiel die Begräbnisszene in Ulysses in den Wendekreis des Krebses hineinpassen. Das ganze Kapitel ist so etwas wie eine Entblößung, ein Exposé der entsetzlichen
    Fühllosigkeit menschlicher Wesen. Damit ist jedoch die
    Ähnlichkeit bereits zu Ende. Rein als Kunstwerk genommen
    steht Wendekreis des Krebses weit unter Ulysses. Joyce ist in genau dem gleichen Sinne ein Künstler, in dem Miller es nicht ist und wahrscheinlich auch gar nicht sein will. Auf jeden Fall versucht Joyce, mehr zu sein. Er durchforscht verschiedene Bewußtseinsstadien, den Traum, die »Reverie« (das »Bronze-bei-Gold«-Kapitel), den Rausch etc., und fügt sie alle zu einem gewaltigen, vielfältigen Bild zusammen, fast wie ein
    viktorianischer Plot. Miller ist ganz einfach ein hartgesottener
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    Kerl, der über das Leben redet, ein gewöhnlicher amerikanischer

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