Im Innern des Wals
Geschäftsmann mit intellektueller Courage und
schriftstellerischer Begabung. Es ist vielleicht bezeichnend, daß er genauso aussieht, wie jeder sich einen amerikanischen
Geschäftsmann vorstellt. Was den Vergleich mit Voyage au Bout de la Nuit angeht, so ist es unter diesem Gesichtspunkt noch weiter von Millers Buch entfernt. In beiden werden
obszöne Wörter benutzt, beide sind gewissermaßen
autobiographisch, das ist alles. Voyage au Bout de la Nuit ist ein Buch, das eine bestimmte Absicht enthält, nämlich gegen die Grausamkeit und Hohlheit des modernen Lebens zu protestieren
- des Lebens überhaupt. Es ist ein Aufschrei des unerträglichen Ekels, eine Stimme aus der Jauchegrube. Wendekreis des Krebses ist so ziemlich genau das Gegenteil. Die Sache ist so ungewöhnlich, daß sie fast anormal erscheint, aber es ist das Buch eines Menschen, der glücklich ist. So, wenn auch in
geringerem Maße, Schwarzer Frühling, über dem stellenweise ein Schatten von Nostalgie liegt. Nach Jahren eines Lebens als Lumpen-Proletarier, Jahren des Hungers, des Herumtreibens, des Schmutzes, der Mißerfolge, der Nächte im Freien, der
Streitigkeiten mit Einwanderungsbehörden, endloser Kämpfe
um ein bißchen Geld, findet Miller, daß er mit sich glücklich ist.
Genau diese Seiten des Lebens, die Céline mit Entsetzen
erfüllen, sind diejenigen, die ihn befriedigen. Weit entfernt, dagegen zu protestieren, bejaht er sie. Und gerade dieses Wort bejahen weist auf seine wirkliche Verwandtschaft mit einem ändern Amerikaner hin, Walt Whitman.
Ein seltsamer Gedanke, sich vorzustellen, Whitman hätte in unseren dreißiger Jahren gelebt. Es ist mehr als fraglich, ob er dann etwas geschrieben hätte, was auch nur entfernt den
Grashalmen (Leaves of Grass, ersch. 1855) geglichen hätte, denn was er schließlich sagt, ist doch: »Ich bejahe.« Aber natürlich besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Bejahung von heute und einer von damals. Whitman schrieb in
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einer Zeit beispiellosen Wohlstands, mehr noch, er lebte in einem Land, in dem Freiheit mehr war als ein bloßes Wort. Die Demokratie, Gleichheit und Brüderlichkeit, die er ständig
besingt, waren keine nebelhaften Ideale, sondern etwas, was er jeden Tag vor Augen hatte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts fühlten sich die Amerikaner frei und gleich, und sie waren es sogar, soweit das überhaupt in einer Gesellschaft möglich ist, die nicht den reinen Kommunismus verwirklicht hat. Es gab
Armut und K lassenunterschiede, aber abgesehen von den
Negern keine ständig unterdrückte Klasse. Jeder hatte die innere Überzeugung, genug zu verdienen, um anständig leben zu
können, ohne jemandem die Stiefel lecken zu müssen. Wenn
man bei Mark Twain über die Mississippi-Flößer und Schiffs-Kapitäne oder bei Bret Harte über die Goldgräber im Westen liest, so erscheinen sie einem ferner als steinzeitliche
Kannibalen. Der Grund liegt einfach darin, daß sie freie
menschliche Wesen waren. Dasselbe gilt für das friedliche, häusliche Amerika der Oststaaten, das Amerika von Little Women, Helen's Babies und Riding Down from Bangor ( von Louisa Alcott, ersch. 1868; von John Habberton, ersch. 1867; Liedanfang; vgl. Orwells Artikel über Helen's Babies: in Tribune
22.11.1946).
Beim Lesen spürt man das
überschäumende, sorglose Leben beinahe körperlich. Es ist
dieses Leben, das Whitman verherrlicht. Auch wenn es ihm nur sehr schlecht gelingt, ist er doch einer der Schriftsteller, die schreiben, was man fühlen müßte, statt es einen tatsächlich fühlen zu lassen. Zum Glück, vielleicht im Hinblick auf seinen Glauben, starb er, noch bevor der Aufstieg der Großindustrie und die Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte der Einwanderer den Verfall dieses Lebens in Amerika einleitete.
Millers Anscha uungen sind eng mit denen von Whitman
verwandt, und wohl jeder, der ihn gelesen hat, wird das
bestätigen.
Wendekreis des Krebses
endet mit einer
ausgesprochen Whitmanschen Passage, in der nach den
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Ausschweifungen, den Schwindeleien, Kämpfen, Saufgelagen
und Dummheiten aller Art er sich einfach hinsetzt und auf die vorüberfließende Seine blickt, in einer Art von mystischer Bejahung des Lebens, wie es einmal ist. Nur, was bejaht er eigentlich? Zunächst nicht Amerika, sondern den alten
Knochenhaufen Europa, wo jeder Zoll Erde aus den Resten
unzähliger Generationen besteht. Zweitens, nicht jene Zeit der Ausdehnung und der Freiheit, sondern die Ära der
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