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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orwell George
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zurückfahren wollte, und bat mich, ihr beim Fortschaffen ihres Gepäcks zum Bahnhof von Wateringbury zu helfen. Da sie die Arbeit vorzeitig aufgegeben hatte, hatte man ihr nur einen Shilling pro acht Scheffel ausgezahlt, und ihr ganzer Verdienst reichte nur für die Rückfahrt mit ihrer Familie aus. Ich mußte einen Kinderwagen mit einem ausgeleierten Rad und riesigen Bündeln beladen über eine halbe Meile durch die Dunkelheit schieben, von einer Horde schreiender Kinder gefolgt. Als wir zum Bahnhof kamen, lief der letzte Zug ein, und beim Überqueren der Gleise stieß ich den Kinderwagen um. Ich werde nie den Augenblick vergessen der Zug rollte langsam auf uns zu, und ein Träger und ich jagten hinter einem blechernen Nachttopf her, der die Schienen entlangrollte.
    Verschiedentlich versuchte Ginger mich abends zu überreden, mit ihm zusammen in eine Kirche einzubrechen. Er hätte es bestimmt allein getan, wenn es mir nicht gelungen wäre, ihm einzutrichtern, daß der Verdacht unweigerlich auf ihn als Kriminellen fallen würde. Er war schon mehrmals in Kirchen eingebrochen und sagte, das lohne sich wegen des Inhalts des Opferstocks im allgemeinen, was mich überraschte.
    Ein- oder zweimal machten wir uns sonnabends einen netten Abend, saßen bis Mitternacht um ein großes Feuer und brieten Äpfel. An einem Abend kam heraus, daß von den fünfzehn, die um das Feuer saßen, jeder außer mir schon einmal im Gefängnis gesessen hatte. Im Dorf kam es jeden Sonnabend zu Krawallen, weil diejenigen, die Geld hatten, sich sinnlos betranken und nur mit Hilfe der Polizei aus dem Pub gebracht werden konnten. Zweifellos hielten uns die Dorfbewohner für ganz gemeines Pack, aber meiner Meinung nach tat diesem verschlafenen Nest der alljährlich Einfall einer Horde von »Cockneys« ganz gut.
    19. September
    Am letzten Morgen, als wir das letzte Feld fertig hatten, begann ein sonderbarer Ulk, bei dem die Frauen eingefangen und in die Körbe gesetzt werden. Sehr wahrscheinlich findet man darüber etwas in dem Golden Bough (James Frazer, Der goldene Zweig . Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker , ersch. 1890–1936). Offensichtlich handelt es sich um einen der alten Bräuche, wie sie mit jeder Ernte verbunden sind.
    Diejenigen, die kaum lesen und schreiben konnten, kamen mit ihren Arbeitsheften zu mir und anderen »Studierten«, um sich bei der Abrechnung helfen zu lassen, manche bezahlten sogar 1p. oder 2p. dafür. Ich stellte fest, daß die Rechnungsführer der Farm sich beim Zusammenzählen öfter geirrt hatten, und zwar regelmäßig zugunsten der Farm. Natürlich bekamen die Pflücker den ihnen zustehenden Betrag, wenn sie sich beschwerten. Andernfalls gab es nur das, was der Rechnungsführer zusammengezählt hatte. Außerdem war ein kleiner gemeiner Trick üblich: jeder, der sich über die Abrechnung beschwerte, mußte warten, bis alle anderen Pflücker ausgezahlt waren. Das bedeutete, daß er bis zum Nachmittag bleiben mußte. Viele, die an die Abfahrtszeiten von Bussen gebunden waren, mußten nach Hause fahren und auf das Geld verzichten, das ihnen zustand. (Im allgemeinen handelte es sich nur um ein paar Pennys. Bei einer Frau machte der Fehlbetrag allerdings über ein Pfund aus.)
    Ginger und ich packten unsere Sachen und marschierten nach Wateringbury, um den Hopfenpflücker-Zug zu bekommen.
    Unterwegs kauften wir Tabak, und sozusagen als Abschiedsgruß an Kent betrog Ginger das Mädchen im Laden auf eine sehr gerissene Art um 4p. Als wir im Bahnhof von Wateringbury ankamen, warteten schon etwa fünfzig Hopfenpflücker auf den Zug. Der erste, dem wir begegneten, war unser alter »Deafy«, der im Gras hinter einem Zeitungsblatt saß. Er lüftete das Blatt seitlich, und da sahen wir, daß seine Hose offenstand und er den vorüberkommenden Frauen und Kindern seinen Penis zeigte. Ich war sprachlos, wirklich, ein so netter alter Mann, aber es gibt kaum einen Vagabunden, der nicht irgendwie sexuell anormal ist. Der Hopfenpflücker-Zug war 9p. billiger als der übliche, dafür brauchte er auch fast fünf Stunden bis London – dreißig Meilen. Um zehn Uhr abends verließ der Strom der Hopfenpflücker den Zug auf dem London-Bridge-Bahnhof, viele waren betrunken, und alle hatten große Büschel Hopfenreben im Arm, die sie auf der Straße anboten und die von Passanten gern gekauft wurden, warum weiß ich nicht.
    »Deafy«, der im gleichen Waggon wie wir gesessen hatte, lud uns in einem nahe gelegenen Lokal zu einem Bier

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